Entschleunigung

Klartext von Roger Liggenstorfer

Der Titel meiner druckfertigen Kolumne im Frühjahr lautete «Die Gier und der Messewahn». Doch dann packte uns alle der Coronawahn – und er beschäftigt uns noch immer. Mit dem Ausdruck «Messewahn» kritisierte ich die ausufernden Hanfmessen, die auf lange Sicht weder für die Veranstalter noch für die Aussteller erfolgreich und nachhaltig ausfallen können. Vielen neuen Möchtegern-Veranstaltern hat die Pandemie nun einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.

Zu hoffen ist, dass bei einigen mit der Entschleunigung auch die Vernunft einkehrt und sie 2021 davon absehen werden, den Messekalender unnötig zu strapazieren. Auch wenn finanzielle Desaster und soziale Probleme viele Menschen schwer getroffen haben, zeigte der Lockdown auch positive Aspekte. Schon vor Jahren hat der Soziologe und Drogenlegalisierungsaktivist Günter Amendt, der viel zu früh durch einen tragischen Unfall starb, die Entschleunigung der Gesellschaft konsequent eingefordert. Dass ihn ausgerechnet ein Kiffer, der eines epileptischen Anfalls wegen sein Auto nicht mehr unter Kontrolle hatte, vor der eigenen Haustüre überfuhr, ist umso tragischer. Der Todesfahrer hätte übrigens längst seinen Fahrausweis abgeben müssen, wäre sein Vater nicht ein Richter gewesen, der beim Führerscheinentzug beide Augen zudrückte.

Parallel zur Entschleunigung beobachte ich eine Dynamisierung individueller und gesellschaftlicher Entwicklungen – wie eine Feder, die angespannt war und nun gelöst wird. Auch wenn wir einige Dinge in Bezug auf die Corona-Pandemie nicht verstehen und vieles (noch) nicht geklärt ist, gleiten gegensätzliche Positionen oft ins Fanatische ab und erschweren eine sachliche Diskussion. Oft ist dieses Entweder-Oder begleitet von radikalen Äußerungen festgefahrener Vorstellungen – insbesondere in den sozialen Medien – begünstigt durch Pseudonyme, hinter denen man sich verstecken kann, und gefördert durch Algorithmen auf Youtube & Co., die den Nutzern ihre unreflektierte Sicht der Dinge durch weitere unkritische Beiträge bestätigen.

Da erinnere ich mich lieber an meinen Freund Albert Hofmann, den LSD-Entdecker, der statt von Entweder-Oder von Sowohl-als-auch sprach, von Ergänzung statt Ausschluss. Es gibt nicht nur These und Antithese, sondern auch die Synthese. Oder wie es der Nachtschatten-Autor und Sagenforscher Sergius Golowin in breitem Bärndütsch so treffend ausdrückte: Es cha sy, odr es cha nid sy – odr es cha gaaanz anders sy.

Wir tun gut daran, aus dieser Krise nicht nur die Entschleunigung mitzunehmen, sondern auch die Fähigkeit, zuzuhören, zu differenzieren und weniger heftig zu reagieren. Entspannte Zeiten lassen sich dazu nutzen, auf psychonautischen Reisen eine andere Sicht der Dinge zu erleben – integrativ, empathisch, respektvoll und mit mehr Verständnis für andere Ansichten. Wenn äußere Reisen erschwert werden, bleiben uns immer noch die kostbaren inneren Reisen.

Eben singen zwei Amseln ihr Abendlied, während ich schreibe. Auch dies hat uns die Zeit der Entschleunigung gelehrt: die Dinge vor unserer Haustür wieder vermehrt wahrzunehmen. Es ist ein Geschenk, die Schönheit der Natur zu sehen und wieder mehr Zeit für positive Erfahrungen zu nutzen – im inneren wie im äußeren Raum.