Das Lied der Schmetterlinge

Die Klang-Medizin der Schamanen

Nana Nauwald: Icaro

Auszug aus dem Magazin

Wieder einmal gebe ich mich dem heilsamen Geschenk einer Ritualnacht in einem Shipibo-Dorf am oberen Ucayali in Peru hin. Über mir das Sternenmeer, unter mir die kribbelnde Welt der Insekten. Der Geruch von mapacho hüllt mich ein; mapacho, der Dschungeltabak, der für das Volk der Shipibo das «Kind» der Ayahuasca ist, der «Liane der Seele». Der Gesang des alten Schamanen Reshin Nika dringt in jede meiner Zellen, bewegt sie, löst durch seinen Gesang Blockaden, lässt Seele und Körper «ein neues Lied» singen. Ich lausche. Weiß ich doch, dass bewusstes Empfangen beim Hören die Wirkung der aufgenommenen Schwingungen erhöht.
Ich werde zu einem Teil seines Gesangs. Mir laufen vor Freude und Rührung Tränen über das Gesicht, als er das Lied der Schmetterlinge singt und damit sein Heilritual beschließt. «Mit diesem icaro lege ich dir einen Heilverband auf, der im Laufe der nächsten Zeit schmelzen wird wie der Schnee in der Sonne», erklärt er mir später. «Die Energie der Schmetterlinge kommt aus den Wolken. Mit meinem Lied fließt sie in dich hinein – die heilsame Energie von Liebe, gutem Glück und Stärke.»

Klang ist Medizin
Seitdem ich die Wandelkraft des Klangs in Ritualen der Schamanen und Schamaninnen in 29 Jahren am Amazonas, in der Welt der Mapuche, in Nepal und am Baikalsee erfahren habe, wundert es mich nicht mehr, dass Orpheus mit seinem Gesang die Herren der Unterwelt dazu brachte, ihm die Schwelle zum Jenseits zu öffnen!
Schon lange vor Orpheus war es so – und es ist noch immer so: Klang ist die mächtigste Medizin der Schamaninnen und Schamanen, weltweit. Es pfeift, rasselt, trommelt, singt im schamanischen Klanguniversum. Es ist das Lied des Geistes einer Pflanze, eines Tieres oder der Ahnen, das im Zustand eines willentlich veränderten Bewusstseins der Schamanin, dem Schamanen von den Geistern geschenkt wird.
Der «Gesangsstil» einer Schamanin, eines Schamanen unterscheidet sich von Kultur zu Kultur, und die Gesänge unterscheiden sich auch darin, wofür sie wirken sollen: zur Heilung von Körper oder Seele, als «Klangleiter», um Wege in die «Anderswelten» zu bilden, um einen bestimmten Geist einzuladen oder auch fernzuhalten, um Geister zu besänftigen, sie anzufeuern oder sie zu verabschieden, Gesänge, in denen die Schamanin, der Schamane berichtet, was sie oder er sieht – und viele Varianten mehr.

Schamanenlieder stellen eine grundlegende Beziehung zwischen Geist und Materie her. Der Geist des Atems, der aus dem Inneren des menschlichen Organismus in Gestalt eines Liedes auftaucht, kann verglichen werden mit einer leuchtenden Seele, die durch die menschlichen Augen scheint. Stephen Harrod Buhner

Ich konnte in verschiedenen schamanisch geprägten Kulturen erfahren, dass in Gesängen, die für eine direkte Kommunikation mit den Geistern eingesetzt werden, immer eine Stimmveränderung stattfindet. Ein Shipibo-Schamane singt an bestimmten Stellen – immer dann, wenn der Geist «da» ist – mit sehr hoher Stimme, so wie ich es auch bei einer Burjat-Schamanin in Sibirien erlebt habe. Dazu legen die Singenden die Hände als Trichter vor den Mund, atmen harzhaltigen Rauch ein, der die Stimmbänder belegt, oder singen in ein Gefäß hinein.

Die Geister kommen nicht immer
«Wie weißt du, welcher Gesang für den Patienten stimmt?», fragte ich den alten Shipibo-Schamanen. «Wenn ich Ayahuasca trinke, sehe ich die Krankheit des Patienten auf dessen Körper. Die Krankheit erscheint dort als Linien, wie ein Netz. Jede Krankheit hat ihren eigenen Gesang. Auch die Krankheit der Seele hat einen Gesang.
Ich singe so lange, bis der Geist da ist, den ich zur Heilung rufe. Wenn der Geist da ist, verändert sich meine Stimme, dann weiß ich, dass er da ist, dann wirkt mein icaro. Der Geist der Mutter der Anaconda ist so etwas wie der König der Heilkraft, die Anaconda rufe ich immer bei schwierigen Heilungen. Doch die Geister kommen nicht immer, wenn ich sie rufe. Sie sind sehr eigene Wesen, niemand ist ihr Herr.
Die Geister kommen nicht aus unserer heutigen Welt, sie kommen aus der Kraft der Natur, lange vor der Entstehung der Welt.»
Ich nicke zustimmend und erinnere mich an die heftige Krankheit mit hohem Fieber, Blutauswurf und extremer Schwäche, die ich mir am Wasserfall der Anaconda im Bergdschungel vor einigen Jahren zugezogen hatte.
Nach der Diagnose des Schamanen war es der Geist der Mutter der Anaconda, der mir diesen Schaden zugefügt hatte. Er lebt in der Tiefe unter dem Wasserfall, und ich hatte ihn gestört – wenn ich auch nicht wusste, wodurch. Hätte er nicht ein Schild an den Wasserfall hängen können: «Bitte nicht stören»?
«Du kannst froh sein, dass der Geist der Anaconda nur deinen Körper geschädigt hat. Hätte dich nicht ein anderer Geist beschützt, die Mutter des Geistes des heißen Wassers, an dem du vorher gewesen bist, so hätte der Geist der Anaconda deiner Seele geschadet, dann wärst du […]

Nana Nauwald

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