Text Andreas Krebs
Mythen und wilde Geschichten ranken sich rund um den Fliegenpilz, den Pilz der Pilze. Seit einigen Jahren dringt er mehr und mehr ins Bewusstsein der Menschen. Er dient als Rausch-, Lebens- und Heilmittel.
Es gibt kaum ein Lebewesen, über das so viel fabuliert wurde und wird, wie den Fliegenpilz (Amanita muscaria). Ihn kennt jedes Kind. In Märchen und Weihnachtsgeschichten taucht er auf; er dient als Motiv für Gemälde (z .B. Florian Haas’ «Maria mit dem Kinde»), CD- und Plattencover (z. B. «Der Jesuspilz» von Witthüser & Westrupp); und er gilt als Heimstätte von Zwergen und Elfen und als Glückssymbol. So ist er auch auf Neujahrs- und Glückwunschkarten häufig zu finden.
Viele Geschichten und Theorien ranken sich rund um den Fliegenpilz. Kennen Sie zum Beispiel den Begriff «Soma»? Soma wurde in der Rigveda (er zählt zu den wichtigsten vedischen Schriften) als «Fürst der Heilkräuter» und «Unsterblichkeitstrank» bezeichnet; es ist das irdische Gegenstück zu Amrita, dem Trank der Unsterblichkeit, der den Göttern im Himmel vorbehalten ist. Arische Stämme nutzten Soma vor 3500 Jahren als Rauschmittel mit dem Ziel der Erleuchtung. Dabei soll es sich um einen Auszug des Fliegenpilzes gehandelt haben, glaubte der US-amerikanische Ethnomykologe und Autor Robert Gordon Wasson (1898–1986).
Eine steile These. Es geht aber noch steiler. Der englische Philologe John M. Allegro (1923–1988), einer der Entzifferer der Schriftrollen vom Toten Meer und viele Jahre Dozent für Bibelstudien an der Universität Manchester, glaubte, dass mit dem Wort «Jesus» in der Bibel kein Mensch gemeint sei; vielmehr sei «Jesus» ein Codewort für den Fliegenpilz. Und die Evangelien der Urchristen seien die verschlüsselte Lehre über den Kult rund um den heiligen Pilz. Dessen Anhänger sollen ihn rituell verspeist haben: «Dadurch wurden psychoaktive Pilze zum Ursprung unserer Religionen.» Seine These beschrieb Allegro in Der Geheimkult des heiligen Pilzes. Dafür erntete er heftige Kritik von akademischer Seite, die ihm «hochtrabenden Unsinn» bescheinigte. Nicht von ungefähr heißt es in Ernst Von Bibras Die narkotischen Genussmittel und der Mensch von 1855: «Die Fantasie wird durch den Fliegenschwamm ähnlich angeregt, wie es beim Opium und Haschisch der Fall ist.»
Der Weihnachtsmann, ein Schamane?
Auch der 2022 verstorbene Ethnopharmakologe Christian Rätsch hat eine sonderbare Geschichte parat. In «Abgründige Weihnachten» schrieb er: «In Wirklichkeit feiern wir ein heidnisches Fest und der rot-weiß gekleidete Weihnachtsmann entpuppt sich als heimlicher Schamane und anthropomorpher Fliegenpilz.» Der magische Flug, die seltsamen Pilze, die Rentiere, der Ritt in fremde Welten und das Mitbringen von Gaben – all das habe der Weihnachtsmann mit Schamanen gemein, die den Fliegenpilz für Reisen in andere Welten nutzen. In Schweden dominieren zu Weihnachten nach wie vor die Farben rot und weiß – vom Christbaumschmuck über die Kerzen bis zur Serviette. Alles in Anlehnung an den Fliegenpilz? Wer weiß. Zufall ist die Tradition kaum.
Indigene Völker nutzen den Fliegenpilz seit Äonen. Auf der Halbinsel Kamtschatka wird er bis heute als heilige Medizin Mukhomor geehrt und verwendet. In Afghanistan wird er «Augenöffner» genannt. Manche verspeisen den Pilz nicht nur, sondern mischen ihn auch mit Tabak und rauchen ihn. Oft wird lediglich die rote Huthaut getrocknet und geraucht (zum Verdampfen im Vaporizer benötigt man eine Temperatur von 175 bis 200 °C). Auch das führt zu Trance, Hellsichtigkeit und Wachträumen. Schamanen gilt er als großer Lehrmeister. Etwa bei den Samen in Lappland und den Stämmen der Ostyak, Vogul und Tschuktschen in Sibirien. Von ihnen stammt auch der Brauch des Urintrinkens: Da die aktiven Substanzen des Fliegenpilzes vom Organismus nicht resorbiert und über den Harn ausgeschieden werden, tranken die Menschen mancher Volksstämme den Urin des Schamanen, der sich zuvor eine große Menge Fliegenpilz einverleibt hatte. Bis zu fünf Mal soll der Urin weitergegeben worden sein.
Würz-, Lebens- und Rauschmittel
Auf so einen \“Second-hand-Kick\“ verzichte ich gerne. Aber mit der Recherche wuchs die Neugierde auf den Pilz und seine Wirkung. Ich briet einen mittelgroßen frischen Hut mit Butter in der Pfanne. Das schmeckte überraschend gut. Sehr würzig. Allerdings stellten sich bald nach dem Verzehr nur eines Hutes Bauchgrummeln und Unwohlsein ein. Das hielt zwei, drei Stunden an; dann war mir wieder «vögeliwohl». Es stellte sich gar ein euphorischer Zustand ein. Vielleicht auch nur, weil ich den Selbstversuch überlebt habe. Ich bin eben kein Schamane.
Dummes Experiment? Nicht unbedingt. Mancherorts wird der Fliegenpilz auch als Speisepilz geschätzt. Etwa in Teilen Russlands oder in Japan. Es kommt eben auf die Zubereitung an: In Sibirien wird er zuerst ausgekocht (bis zu 30 Minuten) und dann scharf angebraten; in Japan wird er in Salzlake eingelegt. Auch das schwemmt die unbekömmlichen Wirkstoffe aus dem Schwamm. So manche haben es indes gerade auf diese abgesehen. Denn sie haben eine psychoaktive Wirkung. Dazu muss man den Pilz trocknen. Denn beim Trocknen wandelt sich ein Teil der Wirkstoffe um: von der Ibotensäure in das Alkaloid Muscimol, das hauptsächlich verantwortlich ist für den Rausch und den Flug der Schamanen in andere Welten.
Lucys Xtra
Einzelbeitrag
• Sofortzugriff auf den ganzen Beitrag
• Zusätzliche Bilder und Informationen
• 12 Monate unbegrenzt abrufbar
• Auf all deinen Geräten nutzbar
Onlinezugang
• Unbegrenzter Zugriff auf exklusive Inhalte
• Abodauer selbst flexibel bestimmen
• E-Papers gratis ab 24 Monaten Laufzeit
Print-Abonnement
• Preis selbst bestimmen
• Onlinzugang & E-Paper gratis erhalten
• Dankeschön geschenkt bekommen