Gegenkulturen

 Die Woodstock-Generation  

Im Sommer, vor etwas mehr als 25 Jahren, verbrachten mehr als 400 000 junge Amerikaner drei Tage und Nächte beim Feiern eines grandiosen Festes in Woodstock. Es war einfach das bis dahin größte, wildeste und einzigartigste Fest unserer Geschichte. Solltest du anderer Meinung sein, dann sag mir warum, damit ich dazulernen kann.

Für ein Wochenende wurde aus jener Wiese die drittgrößte Stadt im Staate New York. Fast eine halbe Million verwöhnte, wohlhabende und gut erzogene junge Amerikaner versammelten sich auf engstem Raum auf einem kleinen Weideplatz im Norden des Staates. Es gab nur ein Minimum an sanitären Anlagen und ein Minimum an Nahrung, die man sich rücksichtsvoll teilte; und am Ende befanden sich alle in der gleichen Schlammpfütze. Das war die eine Seite.

Die andere war, dass diese Konzertbesucher das fantastischste, wildeste dionysische Rockkonzert aller Zeiten erlebten, das mit lustvoller Nacktheit und brüderlich bzw. schwesterlich geteilten psychedelischen Sakramenten angereichert war. Beachte: Es entstanden überhaupt keine Aggressionen unter den Anwesenden!

Das Woodstock-Festival war das Revival des ältesten und ursprünglichsten religiösen Rituals mit Starbesetzung: eine heidnische Zelebrierung des Lebens und der Natur; eine klassische «Gruppen­besessenheit», während der die Teilnehmer «außer sich» waren und im Schutze der Gruppenenergie die chaotischen, tieferen Schichten ihres Seins anzapften.

Suche in anthropologischen Texten, lies Campbell oder Frazier, und du wirst feststellen, dass die Spuren dieser Rituale aus einer Zeit stammen, in der es noch keine aggressiven, vorwärtsdrängenden, puritanischen und monotheistischen (ein männlicher Gott) Religionen gab. Heidnische Rituale feiern immer dieselben natürlichen, instinktiven, arglosen und ewig utopischen Werte: Frieden, reine und ekstatische Sexualität, Gleichheit im Sinne höherer Mächte, Freude, konzen­trierte Ekstase, Toleranz, Bejahung des Lebens und des menschlichen Geistes, den nackten menschlichen Körper, Respektlosigkeit und fröhliches Lachen. Solche Festivals erwecken die ältesten und zugleich utopischsten Sehnsüchte des menschlichen Gehirns.

Wie auch immer, lass dich warnen. Wenn du dich als Individuum erhebst und für diese Ziele einstehst, wirst du sicher von der Steroide fressenden Rambo-Liddy-Oliver-North-Bande (und wahrscheinlich von den meisten etablierten Autoritäten auf deinem Gebiet) als hoffnungslos naiver Idealist verhöhnt werden. «Die Welt ist eine harte, gemeine Gegend», werden dir die konservativen Wissens­experten entgegenhalten.

Aber als im August 1969 400 000 energiegeladene, gebildete junge Menschen zusammenkamen, um die Wiedererweckung der verehrungswürdigen heidnischen Werte auszurufen, da hatte dies eine ansteckende Wirkung. Ein furchtloses Vertrauen entstand in den jungen Erwachsenen. Wenn du dir die Filme aus den Sechzigern an-
­geschaut hast, dann wurdest du von einem
heiteren, herausfordernden Lachen angesteckt und von jenem Gefühl wahrhaftiger Zusammengehörigkeit erfasst. Es gab keine Geheimniskrämerei, keine Scham beim Erleben heidnischer Zustände. Man tauschte seine psychedelischen Elixiere stolz und offen aus. Kannst du dir jemanden vorstellen, der sich damals, in Woodstock, davongeschlichen hätte, um sich heimlich hinter einem Busch mit Heroin vollzupumpen oder der sich ständig Kokain durch die Nase gezogen hätte? Oder jemanden, der Steroide schluckte, während Jimi Hendrix oder Grateful Dead spielten?

Die Woodstock-Erfahrung wurde zum Modell der Gegenkultur jener Zeit. Die Kinder des «Sommers der Liebe» machten sich daran, die amerikanische Kultur für immer zu verändern. Es zeigte sich schon damals, was die Russen dann 1989 Glasnost und Perestroika nannten.

Hippies zählten zu den Begründern der Öko-Bewegung. Sie bekämpften den Rassismus. Sie befreiten sich von eingefahrenen sexuellen Verhaltensweisen, ermutigten zur Veränderung, zu individuellem Stolz und Selbstvertrauen. Sie stellten den roboterhaften Materialismus in Frage. Innerhalb von vier Jahren schafften sie es, dass die USA den Vietnamkrieg aufgaben. Sie brachten es so weit, dass während der Regierungszeit Carters der Gebrauch von Marihuana in vierzehn Staaten der USA entkriminalisiert wurde, und vieles mehr.

Es gab noch ein anderes Nebenprodukt jener Sechziger-Generation, das so offensichtlich ist, dass man es kaum wahrnimmt. Wenn mehr als 400 000 starke, heiratsfähige junge Frauen und Männer in einer lebensbejahenden Stimmung zusammenkommen, dann entsteht automatisch ein gewaltiger gemeinsamer Bauchtanz. Möglicherweise wurden an jenem magischen Wochenende zehntausend Kinder gezeugt. Wie sind diese Kinder der Blumenkinder heute? Und wer sind sie?

Die Kinder der Woodstock-Zeit sind heute, 1996, fünfundzwanzig Jahre alt, und seit fünf Jahren überschwemmen sie die Universitäten.

Werden diese Studenten, die Enkel von Dr. Spock, sich von den konservativen Studenten der achtziger Jahre unterscheiden?

Wenn deine Mutter nackt am Woodstock-­Festival tanzte, wenn dein Vater Abbie Hoffman half, das Pentagon zu überzeugen, den Vietnamkrieg zu beenden … Wenn deine Eltern in ihren jungen Jahren Marihuana rauchten und dabei Bob Dylan, die Rolling Stones und die Beatles hörten… Wenn sie trauerten, als Kennedy, Martin Luther King und John Lennon von fanatischen Paranoikern ermordet wurden  … Wenn deine Familie sich antörnte, sich einstimmte und abhob, gehst du dann in die Industrie arbeiten, bist du dann so geldgeil, dass es dich an die Börse drängt, um dort mit unsauberen Junk Bonds zu handeln?

Die armseligen, konservativen, ängstlich-­konformen Studenten der Reagan-Thatcher-Zeit wuchsen mit Eltern auf, die ihrerseits in den Fünfzigern Eisenhowers groß wurden. Die Geister jenes Jahrzehnts – Senator (Rotenhasser) McCarthy und General Douglas (nukleares Blindauge) MacArthur, John Wayne und «Vater-weiß-alles» – tauchten in den Achtzigern wieder auf und suchten die Universitäten heim.

Die Reagan-Generation

Die Revolution von Woodstock begann 1966, erreichte 1976 ihren Höhepunkt und brach 1980 auf einen Schlag ab, als Nancy Reagan zur First Lady gewählt wurde. […]

Aus: Timothy Leary: Chaos & Cyber-Kultur. Nachtschatten Verlag 1997 (vergriffen). Übersetzung: Heinz Martin

Den ganzen Artikel kannst du im Magazin Lucy’s Rausch Nr. 7 lesen. Hier bestellen.