Text Danny Wolf
Der Vitalismus ist eine alte naturphilosophische Theorie, welche bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts die menschliche Vorstellung über die Natur der Materie dominierte. Nach der Lehre des Vitalismus sind ausschließlich Lebewesen dazu in der Lage, organische Verbindungen, welche am Aufbau und Erhalt lebender Strukturen beteiligt sind, herzustellen. Der schwedische Chemiker Jöns Jacob Berzelius unterteilte Stoffe in anorganisch und organisch, wobei anorganische Stoffe aus mineralischen Quellen isoliert und organische Verbindungen ausschließlich aus Pflanzen oder Tieren gewonnen werden konnten. Organische Substanzen waren zu dieser Zeit im Labor nicht herzustellen, schwieriger zu untersuchen und zersetzen sich leichter als die der Anorganik zugeordneten Vertreter.
Nach der Lehre des Vitalismus waren organische Verbindungen nur solche, die von lebenden Organismen stammten, und ausschließlich Lebewesen konnten mithilfe der ihnen innewohnenden „vis vitalis“ – einer postulierten Lebenskraft – organische Moleküle synthetisieren. Der aus Eschersheim stammende Chemiker Friedrich Wöhler führte im Jahr 1825[1] in seinem kleinen Labor in der Berliner Gewerbeschule ein Experiment durch, in welchem er eine wässrige Lösung des anorganischen Ammoniumisocyanat verdampfte und einen farb- und geruchlosen, kristallinen Feststoff erhielt. Dieser Feststoff stellte sich bei späteren Untersuchungen schließlich als Harnstoff heraus[2], eine Verbindung, die ein Produkt des biochemischen Stoffwechsels ist und die man zur damaligen Zeit ausschließlich als Bestandteil des menschlichen Urins kannte.
In der Vorstellung der Vitalisten konnte die Genese dieser Substanz nur durch Wirken der Lebenskraft erfolgen, und so war die Harnstoffsynthese ein schwerer Schlag für den lang gehegten Glauben an eine „vis vitalis“. Zugleich legte diese Entdeckung den Grundstein für ein neues Gebiet innerhalb der Chemie -– die synthetische organische Chemie. Der zypriotisch-amerikanische Chemiker Kyriacos Costa Nicolaou, der aufgrund seiner Arbeiten im Bereich der Totalsynthese von komplexen Naturstoffen Weltruhm erlangte, nahm zu der Wöhlerschen Harnstoff-Synthese und dem Vitalismus wie folgt Stellung. „Die erste Synthese von Harnstoff war ein tiefgreifender Moment in der Geschichte der Wissenschaft, der sowohl das Ende der allgegenwärtigen Theorie des Vitalismus bedeutete als auch die Geburt der synthetischen organischen Chemie als einer eigenen, eigenständigen, kreativen und wertvollen Disziplin markierte. Man muss jedoch auch bedenken, dass der Niedergang des Vitalismus, einer Theorie, die über Generationen hinweg und von vielen Berühmtheiten vertreten wurde, ein quälend langsamer Prozess sein würde.
Es würde noch viele weitere Jahrzehnte dauern, um diese mystischen Ideen vollständig zu widerlegen; tatsächlich war der große Biochemiker Louis Pasteur auch 50 Jahre später noch ein Anhänger dieses archaischen Glaubenssystems. Ungeachtet der hartnäckigen Ausdauer des Vitalismus muss Wöhlers Synthese von Harnstoff nicht nur als der früheste Beitrag zur organischen Synthese angesehen werden, sondern auch als der mit Abstand wichtigste Schlag gegen diese rudimentäre Theorie.“ [3] Obwohl der Glaube an eine Lebenskraft im wissenschaftlichen Millieu heute keine Rolle mehr spielt, ist die metaphysische Vorstellung von einer der belebten Materie intrinsischen Kraft, die sich von chemischen, physikalischen und anderen evidenzbasierten Prinzipien unterscheidet, in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen noch immer verbreitet. Für die Anhänger der Naturheilkunde, welche sich u.a. auf die Lehren des deutschen Arztes und bekennenden Vitalisten Samuel Hahnemann berufen, kommen Beeinträchtigungen des physischen und psychischen Wohlbefindens dadurch zustande, dass krankmachende Reize, die dem Menschen innewohnende Lebenskräfte beeinträchtigen. Mithilfe naturheilkundlicher Therapieverfahren sollen Krankheiten geheilt und das Wohlbefinden gefördert werden. Dies soll durch die Anregung der Selbstheilungskräfte bewirkt werden, wobei als Heilmittel ausschließlich natürliche Elemente, wie z.B. Wärme, Kälte, Wasser, Erde, Licht, Luft, Nahrung und Pflanzen, angewendet werden dürfen.
Das Beschränken auf natürliche Mittel liegt darin begründet, dass ausschließlich diese die Heilkraft der Natur („vis medicatrix naturea“) in sich tragen und dadurch die aus dem Gleichgewicht geratene Lebenskraft wieder korrigieren können.[4] Die Heilkraft der Natur und die Lebenskraft sind hierbei wesensgleiche, wenn nicht sogar identische Prinzipien. So sollen sich beide Kräfte gegenseitig beeinflussen und letztere hierdurch wieder ins Gleichgewicht bringen lassen, sollte sich diese in einem nicht idealen Zustand befinden. Da psychedelisch wirksame Substanzen in den vergangenen Jahren einen Paradigmenwechsel erlebt haben und diese aktuell vor allem als wert- und kraftvolle Werkzeuge innerhalb eines medizinisch-therapeutischen Kontexts diskutiert werden, sind bestimmte in der Natur vorkommende Vertreter zum Objekt der Begierde von Anhängern naturheilkundlicher Heilverfahren geworden. Hierdurch kam es im Zuge der psychedelischen Renaissance zu einer starken Überschneidung der psychedelischen Szene und dem Personenkreis, welcher sich mit alternativen Heilmethoden beschäftigt.[5]
Da innerhalb der zweitgenannten Gruppierung dem Vitalismus zugrundeliegende Vorstellungen fest verankert sind, kommt es durch diesen Personenkreis zu einer starken Ablehnung von jeglichen Substanzen, die nicht die Kriterien eines natürlichen Heilmittels erfüllen. Der Begriff des Natürlichen wird hierbei recht rudimentär erfasst und zur Beurteilung, was natürlich und nicht natürlich ist, wird ein dualistisches Weltbild herangezogen, das den Menschen und alles durch Menschenhand Erschaffenes in Gegensatz zu allem stellt, was nicht menschlich ist oder durch menschliches Wirken hervorgebracht wurde.[6]
Lucys Xtra
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