Shiva ist Bhangeri Baba

Xtra

Text Wolf-Dieter Storl

 

Mit hoch erhobenen Stock treibt der Wahn
Die Welten wie Herden vor sich her.
Wer, oh Herr, so weiß wie Jasmin (Shiva)
Vermag deine Täuschung zu durchschauen?
Mahadeviyakka, südindische Dichterin, 12. Jh.

Als Oshadhishvara (oshadhi = Heilflanze; ishvara = Herr) ist Shiva, der Gott der Götter, Herr aller Rauschdrogen und Heilkräuter. Besonders Hanf und Stechapfel liebt er. Er ist der einzige Gott im ganzen Götterpantheon, der immer »high« ist. Schon die alten Schriften, wie das Bhagavata Purana, bezeugen das. Es wird erzählt, wie Shiva, um einen seiner Verehrer zu retten, »halb die weibliche Gestalt Parvatis[1] annahm, sein ungepflegtes Haar aufband, seinen Körper mit Asche einrieb, große Mengen Hanf, Seidenpflanze und Stechapfel verzehrte, sich eine weiße Schlange als Brahmanenschnur, eine Elefantenhaut und ein Halsband aus Totenschädeln anlegte. So ritt er auf Nandi, dem Stier, in Begleitung seiner Gespenster, Teufel, Schratten und halbtierischen Kreaturen, mit dem Mond auf der Stirn und blutroten Augen aus, um seine Anbeter zu rächen[2]«. Seither hat sich Shivas Ruf nicht gebessert.

In Auslegung des tantrischen Textes Vigyana Bhairava Tantra erzählte Osho[3] seinen Zuhörern: »Devis Vater war nicht gewillt, seine Tochter an diesen Hippie zu verheiraten. Shiva war der Urhippie. Devis Vater war total gegen ihn, und kein Vater der Welt hätte diese Ehe zugelassen, keiner! Dann kam die ganze Hochzeitsprozession. Es heißt, dass alle rannten, um Shiva und seine Prozession zu sehen. Das gesamte Bharat (Indien) musste LSD genommen haben, Marihuana. Alle waren angetörnt. Und wirklich, LSD und Marihuana sind kleine Fische: Shiva, seine Freunde und Schüler waren im absoluten Psychedelikum: Soma rasa. Aldous Huxley hat den Inbegriff aller Drogen nur Shiva zu Ehren ›Soma‹ genannt. Alle waren angetörnt, tanzten und schrien und lachten.« (Das von Albert Hofmann herauskristallisierte Alkaloid LSD war sicher nicht mit im Spiel, es sei denn in göttlicher Vorwegnahme – wohl aber jede andere natürliche Droge.)

In den Geschichten, die man sich in indischen Dörfern abends am Feuer erzählt, macht man sich gerne lustig über diesen Schalk, dessen Augen immer rot sind, weil er zu viel von dem sonderbaren Kraut raucht. Es wird gesagt, er sei faul, rasiere sich nicht, stinke wie ein Ziegenbock und habe keine Lust auf einen anständigen Lebenswandel. Er ist dermaßen süchtig, dass er sogar Parvatis Schmuckstücke verhökert, um sich Stoff zu kaufen.

Ganz unschuldig ist die Ehefrau daran auch nicht. Als sie gerade verheiratet waren – so erzählt eine Geschichte –, wanderte Shiva gern allein durch Wälder und Berge und vernachlässigte seine junge Braut. Da braute ihm die kräuterkundige Frau ein Getränk aus den zerstampften Blättern der blühenden, weiblichen Hanfpflanze. Das nagelte ihn fest. Nachdem er einige Schlucke davon getrunken hatte, stellte er plötzlich fest, dass es keine schönere Frau als Parvati gäbe und keinen schöneren Ort als an ihrer Seite. Eine andere Fassung der Geschichte erzählt, dass Shiva dauernd Hunger hatte und etwas essen wollte. Da die Hausfrau mit den Kindern genug zu tun hatte, machte sie es sich leicht. Sie kochte ihm einfach Bhang (Hanfblätter), und seither ist er zwar verlottert, aber zufrieden.

Eine weitere Geschichte erzählt, dass er zum »Trunkenbold« wurde, weil er sich den Fluch seines Schwiegervaters Daksha zu sehr zu Herzen genommen hatte. Trotz seiner schlechten Angewohnheiten liebt ihn Parvati über alles und nennt ihn zärtlich ihren »Bhola«, ihren Narren. Shivas Anhänger, die Sadhus, die in imitatio dei wie ihr Herr aschebeschmiert, ganjarauchend, zottelhaarig und schelmisch die Weiten Indiens durchwandern, nennen ihren Gott liebevoll »Bhangeri Baba«. Sie nehmen die Droge, um »abzuheben«, um den philosophischen Abstand zu wahren und als Meditationshilfe. Es hilft ihnen, sagen sie, beim Brahmacharya, der sexuellen Enthaltsamkeit, die so wichtig ist, um die Shaktikraft[4] zu sammeln. Der Wahnsinn Shivas und seiner Anhänger, das ständige Berauschtsein, kann aber auch anders gedeutet werden, und zwar als »Gottestrunkenheit« im biblischen Sinn. Shiva schenkt denen, die ihn lieben, den »heiligen Wahnsinn«. Er leert sie aus und füllt sie bis ins Knochenmark mit himmlischer Ambrosia, mit der Ekstase der Erlösung. Ein solcher Seliger wird von allen, die noch in der Illusion des Samsara befangen sind, als Wahnsinniger (Pittar) bezeichnet. Die Aussprüche dieser Pittar sind für den normalen, weltlichen Menschen ebenso rätselhaft wie die des haschischrauchenden Berliner Kabarettisten mit der Pauke, Wolfgang Neuss, der den Bundesbürgern erklärte: »Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift!«[5]

Manikkavacakar, ein shivaitischer Heiliger aus Tamil Nadu (9. Jahrhundert n.u.Z.) singt[6]:

Obwohl die Welt mich verhöhnt,
mich einen Teufel nennt,
schäme ich mich nicht!
Das böse Geschwätz der Nachbarn
verwandelt mein Geist in Ehrenschmuck!

Entzückt singt der Verrückte weiter:
Wir sind keine Knechte mehr!
was haben wir noch zu fürchten
wir, seine Verehrer?
wieder und immer wieder tauchen wir
in das Meer seiner Wonne ein.«

Der Rausch des Shivaiten – besonders in der südindischen Prägung, die seit dem Mittelalter besteht – ist das totale »Verliebtsein« (Bhakti) in Shiva, den Liebhaber der Seelen. Der Mensch, der Gott liebt, sieht kein Problem darin, dass er seinen seelischen Höhenflug durch Tanz, Gesang und Entheogene bis zum Äußersten steigert. Hat Shiva-Oshadhishvara den Menschen nicht deswegen Gesänge und Kräuter geschenkt? Helfen sie nicht, die zu Gefängnismauern erstarrten Vorstellungen und Fixierungen zu sprengen?

Manikkavacakar, dem Shiva in der Hafenstadt Perunturai als menschlicher Guru erschien, dem er sich bedingungslos unterwarf, singt:

Der Vater, der Herr von Perunturai
erfüllte mich mit Verrücktheit (Pittu),
zerschnitt meine Wiedergeburt,
kam und machte meinen Geist unbeschreiblich berauscht,
und nahm mich an, als seinen Sklaven. Er, meine Medizin,
schaute mich mit seiner unendlichen Gnade an
und kam als nimmer endende Wonne zu mir.

Dem Abendland ist diese Art von göttlicher Besessenheit nicht völlig fremd, aber doch eher suspekt. Schon das Alte Testament – einer der Eckpfeiler unseres Weltverständnisses – lehnt Rausch und Ekstase, die in den eher matriarchalen, orgiastischen Festen der kanaanäischen Nachbarn der alten Hebräer eine Rolle spielten, entschieden ab. »Im Rausch ist der Mensch außer sich, ohne in Gott zu sein.«

Lucys Xtra

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