Er war der «Staatsfeind Nr. 1» für den US-Präsidenten Richard Nixon – und der Hohepriester und Lehrmeister für die Gegenkultur der 1960er-Jahre; er wurde gejagt, gefangen und in Einzelhaft gehalten – und er wurde gefeiert, verehrt und inspirierte die Massen. Er war Provokateur, Politiker und Popstar – und er war Psychologe, Philosoph und Pionier der Bewusstseinsforschung. Dies alles und einiges mehr war Timothy Leary. Gäbe es eine Wahl der schillerndsten und einflussreichsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, das 1920 in Springfield/Massachusetts geborene Multitalent gehörte sicher auf einen der vorderen Plätze.
Die Historiker der Zukunft werden seine Person einst als einer der wichtigsten kulturrevolutionären Kristallisationspunkte des 20. Jahrhunderts einstufen. Denn nicht umsonst rief die Nixon-Regierung den flüchtigen Ex-Harvard-Professor zum Staatsfeind Nr. 1 aus, nicht umsonst brummte man ihm für ein paar Gramm Marihuana dreißig Jahre Gefängnis auf, von denen er acht Jahre absaß, nicht umsonst wurde er als «Verderber der Jugend», «LSD-Papst» oder «CIA-Agent» verrufen – denn es war niemand anderes als Leary, der die subversivste Parole des Jahrhunderts ausgegeben hatte: Tune in – stimme dich ein, werde dir deiner Prägungen bewusst, turn on – erweitere dein Bewusstsein, drop out – stelle jede Realität und Autorität in Frage.
Schon Ende der 50er-Jahre hatten die Schriftsteller Aldous Huxley und Arthur Koestler diskutiert, auf welchem Wege das chemische Wunder der Bewusstseinserweiterung gesellschaftlich am besten wirksam zu machen sei; als der smarte Harvard-Psychologe Leary zu ihnen stieß, glaubten sie, den richtigen Mann für ihre Strategie – die Missionierung der Machteliten und der Intellektuellen – gefunden zu haben. Doch Leary beschränkte die Weitergabe seines Wissens und des (damals noch legalen) LSD nicht auf Professoren und Führungspersönlichkeiten – er ermunterte alle Studenten, zum Operator ihres Gehirns zu werden. Deshalb schallt seinem Namen bis heute der Ruf «unverantwortlich» nach, auch wenn Leary niemals vergaß, auf die Grundregeln für erfolgreiche psychonautische Reisen – die strenge Beachtung von Set und Setting – zu verweisen. Learys Propaganda für die psychedelische Erfahrung habe eine systematische medizinische und therapeutische Erforschung unmöglich gemacht und überhaupt erst zu den Verboten dieser Substanzen geführt, klagen bis heute manche akademische Vertreter. Auch Albert Hofmann, der Entdecker des LSD, hatte kritisiert, dass Learys Profanisierung dieser «sakralen» Substanz unverantwortlich gewesen sei, verstand sich aber gleichwohl sehr gut mit dem berüchtigten Professor, was bei Learys Intelligenz und Humor kein Wunder war.
Ohne Learys Popularisierung der Bewusstseinserweiterung hätten viele der kulturrevolutionären Impulse der 60er Jahre (Summer of Love, ’68) niemals gezündet, wäre das Sergeant-Pepper-Album der Beatles, die Keimzelle heutiger Popmusik, so nicht entstanden, wären Kommunen und Kollektive im insektoiden Mao-Murxismus steckengeblieben und hätten weder die Rainbow Gatherings der 70er noch ihre Folgeerscheinungen wie Greenpeace und die Grünen solche Bedeutung erlangt. Als Impulsgeber für die (Gegen-)Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts kann Tim Leary kaum überschätzt werden. Dass er auch als Forscher und Wissenschaftler ein faszinierendes Werk hinterlassen hat, wird jetzt von einem Buch belegt, in dem James Penner Learys wissenschaftliche Arbeiten aus den frühen 1960er-Jahren versammelt und kommentiert hat: Timothy Leary – The Harvard Years.
An die psychologische Fakultät der Harvard University war Leary berufen worden, weil er mit seinen Arbeiten und Publikationen als Verhaltenspsychologe aus den bis dahin gültigen Paradigmen der Psychotherapie ausgebrochen war: Weder die Distanz von Therapeut und Klient in der Freudschen Psychoanalyse noch die Reiz-Reaktions-Schemata des seinerzeit führenden amerikanischen Psychologen B. F. Skinner, in denen der Klient als sterile «blackbox» betrachtet wurde, schienen dem jungen Professor Timothy Leary für das therapeutische Verfahren angemessen. Ähnlich wie die britischen Antipsychiater Ronald Laing und David Cooper plädierte er für eine Reform in der Behandlung von Geisteskrankheiten und für die Aufhebung des traditionellen hierarchischen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient. Kommunikation, Kooperation, Interpersonalität, Interaktion waren die Stichworte einer «existenziellen Transaktion», mit denen Leary an den überkommenen Verfahren und Praktiken der klinischen Psychologie rüttelte. Sein erstes wissenschaftliches Werk – The Interpersonal Diagnosis of Personality – wurde in psychologischen Fachblättern 1957 als «vielleicht wichtigstes klinisches Werk des Jahres» gelobt und brachte ihm Ende 1959 den Ruf an die renommierte Harvard-Universität ein.
Doch schon der erste Urlaub im Frühjahr 1960, als er dem kühlen US-amerikanischen Osten ins sonnige Mexiko nach Cuernavaca entfloh, machte dem aufstrebenden Professor deutlich, dass sein für die damalige Zeit schon sehr radikales Konzept der Persönlichkeit noch viel zu kurz gegriffen war. Eine Dosis «heiliger Pilze» mit dem Wirkstoff Psilocybin schickte Tim Leary auf eine Bewusstseinsreise, die seine wissenschaftliche Forschung und sein Leben schlagartig veränderte. Dass das Ich kein abgeschlossener Psycho-Kasten ist, sondern vielmehr ein interaktives Spiel sozial konditionierter Rollen, und dass ein Individuum echte Freiheit und Authentizität nur gewinnen kann, wenn es sich diese Konditionierungen bewusst macht – zu dieser Erkenntnis war Leary in seiner Arbeit als Verhaltenspsychologe schon gekommen. Nach den Einblicken in den Weltraum […]
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