Text: Sergius Golowin
Religion war den tantristischen Sekten Indiens kein Lesen frommer Bücher oder Begehen altehrwürdiger Bräuche, sondern das dauernde Suchen von Mitteln, jene Seelenzustände zu erzeugen, die den Menschen das Göttliche als eine Wirklichkeit höherer Art erleben lassen.
Ekstatische Liebesbräuche sollten ebenso dazu dienen, wie Musik, Farbwirkungen heiliger Bilder, Atemübungen, Naturstimmungen, aber auch zum guten Teil sehr gefährliche Rauschkräuter.
Immer wieder finden wir darum bei ihnen den ebenso schönen wie mörderisch gefährlichen Stechapfel erwähnt, der den in seinen Gebrauch Uneingeweihten mit großer Leichtigkeit in Irrsinn, Verblödung und tödliche Vergiftungen zu reißen vermag. Weil Gauner mit seinen Wirkstoffen die Widerstandskraft ihrer Opfer brachen, hieß er u. a. «kitava» oder Spieler, wie auch «dhurta», Täuscher, Betrüger, oder «unmatta», also trunken, verrückt.
Doch ein Kraut, das den Menschen in einen Strudel des Scheins reißt, galt gleichzeitig als ein Wegweiser, gerade den Schein der Welt zu durchschauen und göttliche Wahrheiten zu erkennen: So heißt der Stechapfel den alten Indern auch «Shivshekhara», was an Gott Shiva erinnern soll. «Devaki, die Mutter des (Gottes) Krishna, ist gleichzeitig der Stechapfel (Datura).»
Der Stechapfel erscheint geradezu im Mittelpunkt von tiefsinnigen Götterbildern des tibetanisch-indischen Kulturkreises. Das Zusammenspiel der Chakras, der Mittelpunkte von Energieströmen im menschlichen Leib, wurde von Sehern «einer Reihe aufblühender Dhusturablüten» verglichen. Ihr «Weiß» besaß offenbar überhaupt seine Bedeutung unter ihren mystischen Sinnbildern.
Erst nach dem Mittelalter scheint nach dem Zeugnis der Kräuterbücher der Stechapfel richtig in Europa bekannt geworden zu sein, und man hat darum behauptet, daß die Zigeuner seine Samen, «dessen sie sich bei ihren Betrügereien und auch zu eigenem Genüsse als Narkotikum bedienen, zuerst nach Europa gebracht haben».
Eine dunkle Zigeunersage erzählt tatsächlich, wie die Gattin eines großen Zauberers, von der alle die Nomaden ihrer Rasse abstammen sollen, in den Stechapfel verwandelt wurde: «Den ihre Kinder mit sich in die Welt führen uncl überall verbreiten.»
DIE CHEMIE DER HEXENFLÜGE
Als ein Freund von mir der magischen Zigeunertrommel «mit den wahrsagenden Stechapfelsamen» nachging, von der noch in einem andern Abschnitt geredet werden soll, vernahmen wir in der Gegend von Salavaux-Vallamand, «daß Vagabunden, die sich früher besonders um den Murtensee herumtrieben, solche Pflanzen in den römischen Ruinen von Avenches gesäet haben, wo man sie noch lange finden konnte».
Auch sonst ist der Gebrauch von Nachtschattengewächsen bei Zauberbräuchen in der Schweiz gut bezeugt, wo wir ja u. a. auch die Ausdrücke Zigeunerkorn, Zigeunerkraut für das Schwarze Bilsenkraut finden: «Früher wurde aus der Pflanze besonders die Hexensalbe bereitet; den Zigeunerinnen schreibt man noch heute die Kenntnis allerlei medizinischer und Zauberkünste zu.»
Einige Forscher gingen sogar so weit, aus den Wirkungen der gefährlichen Nachtschattengewächse – und vor allem des (nach ihnen) von den Zigeunern von Indien her eingeführten Stechapfels – die verwirrenden Gesichte zu erklären, dank denen seit dem 15. Jahrhundert in den europäischen Berggegenden die Hexensekten aufblühten. «Im Oriente dienten die Stechapfelgewächse zur Herstellung von berauschenden Getränken und Tabaken … Stechapfelextrakt spielt auch bei den Hexensalben sowie den narkotischen Zauberräucherungen eine gewaltige Rolle.» Leider ohne den genauen urkundlichen Beweis zu veröffentlichen, behauptete ein deutscher Forscher: «Deutlich ersichtlich nahmen Stechapfel und Hexenprozesse denselben Weg. Der erstere ist, soweit sich dies bei der Heimlichkeit der Anpflanzung im Anfange konstatieren läßt, immer kurze Zeit vor dem Beginne der Hexenprozesse in eine Gegend eingewandert.
Lucys Xtra
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