Jean Cocteau: Orpheus aus Laub

Text Claudia Müller-Ebeling

 

1951, Öl auf Leinwand, 80 x 65 cm, Privatbesitz

Das Profil eines Mannes, mit Büste von Schultern und angeschnittenem Oberkörper, füllt das rechteckige Bildformat. Mit geöffnetem Mund und entgleister Pupille blickt er nach oben, in die von Farbpartikeln durchzuckte Schwärze. Gezackte Umrisse aufgewirbelter Blätter in hellem Gelb, Grün und warmen Umbra-Farben – rings um Stirn, Auge und Ohr (wo sie Kastanienblättern ähneln) – paaren sich mit züngelnden Linien gesträubter Haare, und heben sich lichterloh ab von kalten Farbtönen, die mehrfach die dominierenden Dreiecke der unteren Bildhälfte umgeben. Zwei parallel platzierte konvexe Sicheln durchbrechen das Farben- und Formen-Gewitter und bannen mit reinem Weiß den betrachtenden Blick: Die Zahnreihe im Oberkiefer und die Sichel des Auges, dessen Unterlid das vertikale Oval der hellblauen Iris mit quer schwebender dunklerer Linse entgleitet. Ein winziges Detail, doch kompositorisch ein gravierender Kunstgriff, der dem aufwärts gerichteten Blick eine beängstigende Note verleiht. Erst dem zweiten Blick offenbaren sich Details, die dem vorherrschenden Kubismus (abgesehen der erwähnten Haare) widersprechen und inhaltliche Spekulationen suggerieren.

Der dunkelfarbige Schwanz am linken Bildrand (der bezeichnenderweise mit geschwungenen Linien am Ohr korrespondiert, d.h. mit rufgefährdendem Hören-Sagen), und das in Stirnhöhe angedeutete Gitter könnten das Labyrinth der Triebe und Verleumdungen veranschaulichen, in dem sich das französische Multitalent Jean Cocteau (1889-1963) gefangen sah. In doppelter, nein sogar in dreifacher Hinsicht. Als Künstler, Homosexueller und als Opium-Connaisseur.

Vor diesem Hintergrund widmete sich Jean Cocteau dem Mythos von Orpheus und Eurydike. Ihre dem Tod unentrinnbare Liebe inszenierte er 1926 im Drama Orphée und als Regisseur 1949 im gleichnamigen Film. Als Maler, Zeichner und Graphiker inspirierte ihn der Mythos mehrfach. Auch “unerschütterlich” aus “Opium Sicht”. So wie 1951 die beklemmende Vision seiner Suchtabhängigkeit von Orpheus aus Laub.

Sein Ölgemälde vergegenwärtigt den verzweifelten Blick in jenseits erhoffte Glückseligkeit, die unserer Sicht auf die Wirklichkeit entgleist. Heute, wie einst Cocteau, dessen entgrenzend “quere” Pupille uns dies verständlich macht …