In memoriam Christian Rätsch

Nachruf: Lebenswerk gleich Lebensende

Der Ethnopharmakologe Christian Rätsch. Foto: Elfriede Liebenow

Nachruf auf Christian Rätsch (20. April 1957 bis 17. September 2022)

Von Claudia Müller-Ebeling, Markus Berger und Roger Liggenstorfer

Christian Rätsch auf der Vernissage am 15.9.2022 in Solothurn. Foto: R. Liggenstorfer

«Ich muss nie wieder ein Buch schreiben!», antwortete der legendäre Forscher und Autor Christian Rätsch, bei der von Roger Liggenstorfer vom Nachtschatten Verlag spontan organisierten Vernissage am 15. September 2022 in Solothurn, auf die Frage «Was ist nun Ihr Wunsch?» und stützte sich milde lächelnd auf die beiden gewichtigen Bände der Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen, erschienen 1998 im Schweizer AT Verlag und als Nachtschatten Edition, und nun druckfrisch Band 2.

«Mit nur 800 Seiten – mit brandneuen Monographien, Einträgen und aktuellen Ergänzungen – ist das neue Baby von Markus Berger und mir 200 Seiten dünner und nur 2,6 Kilo schwer. Ohne meinen wunderbaren Freund und Kollegen Markus, der Pionierentdeckungen u.a. zu Psilocybepilzen machte, hätte ich das nie geschafft. Und auch nicht ohne Corona. Nur das gab mir Zeit zur konzentrierten Arbeit.»

Niemand konnte an dem Abend auch nur ahnen, dass dies die letzte persönliche Antwort auf eifrige Fragen von Lesern und Fans hatte sein sollen. Den letztlichen Erfolg seines Lebenswerks wird Christian von der anderen Seite aus miterleben. Mit dem Verlust dieses Ausnahmewissenschaftlers geht eine Ära zu Ende. Der Einfluss, den Christian auf die globale Drogenforschung hatte, ist kaum zu ermessen. Ungezählte Forscher bauten auf der Grundlage von Rätschs Arbeit eigene wissenschaftliche Felder auf und machten auf diesem Gebiet Karriere. Ohne die Erkenntnisse und Publikationen dieses leidenschaftlichen und wahrhaft unabhängigen Wissenschaftlers wären zahlreiche wichtige Forschungen nie angestoßen oder gar vollendet worden. Der Dank, der ihm dafür gebührt, wird sich wohl erst jetzt artikulieren – und weiten Kreisen bewusst, denn niemand hätte damit gerechnet, dass Christian Rätsch schon mit 65 Jahren von uns gehen würde.

Zur Vernissage in Solothurn, Christians letztem Live-Auftritt vor Publikum, kamen rund 60 Fans, Freunde und KollegInnen, 40 Exemplare der Enzy 2 (so der interne Code) wurden an dem Abend verkauft. Das neue Monumentalwerk von Rätsch und Berger schlug schon kurz vor der Veröffentlichung in die Hitlisten des Buchhandels ein – kein Wunder, ist schon der «Urband», der jetzige Band 1, DAS weltweite und unerreichte Standardwerk zum Thema.

Roger Liggenstorfer, Christian Rätsch und Claudia Müller-Ebeling, 16.9.2022. Foto: zvg

Auch Band 2 haut um. Mit gewohnt gediegenem AT-Layout und brillanten Fotos, fundiert recherchierten Kapiteln über Kunst, Literatur, Musik des opiumberauschten 19. Jahrhunderts. Mit neuen Erkenntnissen, Pflanzen, Pilzen und Bakterien und einem Anhang über (bislang gänzlich übersehene) Schnecken in der Ethnopharmakologie psychoaktiver Substanzen, den nur der Conchylien-Enthusiast und Altamerikanist Rätsch eruieren konnte.

Die kollegial loyale vierjährige Zusammenarbeit an dem Werk haute den siebzehn Jahre jüngeren Co-Autoren Berger aus den Latschen, der vom Krankenbett nur papierne Grußworte schicken konnte. Die Enzy 2 vollendete Rätschs Lebenswerk. Und sein Leben.

Der plötzliche Tod von Christian Rätsch war ein furios getimtes Finale (à la Richard Wagner, dessen Musik er liebte).

Ein unentdecktes Magengeschwür, das er eisern all die Jahre gebändigt hatte, brach kurz vor Ende einer tapfer bewältigten 10-Tage-Tournee durchs Allgäu und die Schweiz (mit Vorträgen und Seminaren) auf. Nachdem der Applaus auf seine Rede zur Vernissage nicht hatte enden wollen, er am nächsten Morgen dicke Bücherstapel signierte – erreichte er endlich das letzte Bett aller Events.

Christian Rätsch und Markus Berger 2022. Foto: Elfriede Liebenow

Unerschrocken Unabhängige, die sich dem Gegenwind stellen, mutig Weltenräume des Bewusstseins erforschen und wirklich Wissen schaffen, wie der Hamburger Christian Rätsch, sind wahrlich rare (wahrhaftige) Unikate. Unfassbar, dass er diese Welt verlassen hat.

Sein Werk umfasst unzählige, in viele Sprachen übersetzte und meist opulent illustrierte Bücher. Ein weiteres wird er nicht schreiben. Der Rätsch und sein Nachfolger Rätsch/Berger aber werden im kollektiven Bewusstsein bleiben.

Ruhe in Frieden, lieber Christian. Du wirst immer in unseren Herzen sein.

www.christian-raetsch.de