420 Smoke-In am Brandenburger Tor

Text Dan K. Sigurd

Dan erwachte und griff wie immer praktisch automatisch nach dem Telefon auf seinem Nachttisch. Dieses zeigte ihm eine Nachricht seines Freundes Luis, der ihm einen Zeitungsartikel zum heutigen «Smoke-In» geschickt hatte. Er enthielt einen Link zu einem Video von Richter Müller, einem berühmten Jugendrichter und Entkriminalisierungsbefürworter, der zur Teilnahme an der 420-Demonstration aufrief und triumphierend eine seiner letzten Reden zu diesem Thema ankündigte, da sein Lebenswerk nun vollendet war. «Na dann mach ich jetzt erstmal Maybachufer bis 17 Uhr und dann Brandenburger Tor! See ya there?!», schrieb Dan zurück und schleppte seinen schmerzenden Körper rüber zur Kaffeemaschine in der Küche. Dort prasselte Regen gegen das Fenster, aber als er mit dem Frühstück fertig war, schien es mit den Schauern erst einmal vorbei zu sein. ‹Keine Ausreden mehr! Zeit, zum Kanal zu fahren!›, dachte Dan und schnappte sich seinen kleinen roten Wagen. Die U-Bahn brachte ihn zur Schönleinstraße, wo er das schwere Wägelchen am Ende des Bahnsteigs die Treppen hinauf hievte. Draußen hatte es wieder zu regnen begonnen, aber zum Glück hörte es auf, als Dan seinen Baum erreichte, zumindest für einen Moment – lange genug für Dan, um seine Schreibmaschine aufzustellen. Der nächste Schauer ging in Hagel über, und Dan murmelte: «Verdammter April … Scheißwetter!» Er versteckte sich unter seinem Schirm, bis die Sonne wieder durch die Wolken brach. Es dauerte nicht lange, bis der erste junge Mann um ein Gedicht bat. Während Dan es schrieb, blieb ein zweiter Mann neben ihm stehen und sagte: «Ah, unser geliebter Herr Dichter! Hier, nimm etwas davon!» Er öffnete ein kleines Plastiktütchen und warf Dan eine große Knospe Gras in den Hut. «Oh, danke. Legales Gras, eh? Endlich! Wobei … es ist jetzt ‹legal›, das Zeug zu rauchen, aber man bekommt es eigentlich noch nirgends. Die Clubs starten ja erst im Juli und brauchen dann noch ewig bis zur ersten Ernte!» «Na ich hab natürlich erst am 1. April angefangen, bei mir zuhause anzubauen!», witzelte der Mann und zwinkerte ihm zu, «… und jetzt, 20 Tage später, sind meine drei legalen Pflanzen auf magische Art und Weise schon ausgewachsen und ich hatte heute die erste fette Ernte …» «Ha! Tja, möchtest du dafür ein Gedicht haben?» Dan bekam noch einmal drei Worte und nach ein paar weiteren Minuten hektischen Tippens überreichte er das Gedicht mit den Worten: «Happy 420, mein Lieber!» Der erste junge Mann, der immer noch mit seinem Gedicht in der Hand neben Dans Schreibmaschine stand, fragte: «420?» «Ja … 16.20 Uhr ist angeblich die beste Zeit, um Gras zu rauchen … zumindest in den USA! Und heute ist der 20. April … 4/20 … also der Feiertag der Kiffer, eh?!» «Ich rauch› ständig Gras, aber ich hatte keine Ahnung! Ähm, aber heute ist doch der 20.4. und nicht der … äh … 4.20.!?!» «Tja, die Amerikaner schreiben ihre Daten rückwärts … deshalb nennen sie den 11. September auch 9/11, eh?!» «Woah! Das Datum heute sieht super seltsam aus!», mischte sich der andere Kiffer ein und zeigte auf sein Handy, das den Kalendertag anzeigte: «42024! Es ist vorwärts und rückwärts das Gleiche! Das haut mich jetzt total um, Alter!» Während Dan weitere Gedichte für die Massen tippte, sah er unzählige Menschen mit Joints vorbeigehen. Man konnte den süßlichen Geruch praktisch ununterbrochen riechen und Dan versuchte sich zu erinnern: ‹Gab es vor einem Jahr an 420 genauso viele Leute, die in der Öffentlichkeit gekifft haben?› Gerade als Dan das letzte einer ganzen Reihe von Gedichten übergab, sah er Luis auf sich zukommen. Der junge peruanische Maler, der hier am Ufer des Landwehrkanals seine «Ugly Portraits» verkaufte, hatte seinen Stand offenbar bereits abgebaut und seine Malutensilien zurück in seine Wohnung um die Ecke gebracht. «Happy 420!», rief er ihm zu und gab ihm einen Fist-Bump. «Es ist soweit! Die Pflicht ruft! Pack zusammen und lasst uns von hier verschwinden!» Dan packte seine Schreibmaschine und die Schilder ein und sie fuhren zurück zu seiner Wohnung, damit er sie dort abstellen konnte. Als sie sein buntes Atelierzimmer betraten, fragte Luis: « Hast du eigentlich Gras im Haus?» Dan reichte ihm den Cannabisknollen, den er vorhin bekommen hatte, und Luis drehte sich eine lange, dicke Tüte. Er zündete den Joint an, hustete und reichte ihn dann weiter. Doch gerade als Dan einen Zug nahm, schrie Luis auf: «Was zum Teufel ist da draußen los? Die verdammten Bullen, Mann! Verstoßen wir gegen eine dieser neuen Abstandsregeln? Sind die hinter uns her?» Als Dans geschwollene, rote Augen seinem ausgestreckten Finger zum Fenster folgten, sah er, wie eine ganze Reihe von Mannschaftswagen auf das Wohnhaus auf der anderen Straßenseite zufuhr und Panik erfasste ihn. Er wurde noch paranoider, als er bemerkte, dass die Polizisten, die aus den Fahrzeugen sprangen, nicht nur schwere taktische Ausrüstung trugen, sondern auch Skimasken, um ihre Gesichter zu verdecken. «Oh yeah, schon wieder ’ne Razzia … das haben sie letzte Woche auch schon mit der Shisha-Bar ein Stück weiter die Straße runter gemacht …», erinnerte sich Dan. «Als sie diese Front dicht gemacht haben … dieses »Bar/Café» nebenan, habe ich einen Artikel in der Lokalzeitung gelesen und eigentlich war alles, was sie damals beschlagnahmt haben, Gras … und etwas Methadon, plus ein Messer, glaube ich … also letztendlich ziemlich harmlos?!» «Ja, aber die Dealer in deiner Straße steigen jetzt wahrscheinlich auf Kokain um, oder?», warf Luis ein. «Das müssen sie wohl, jetzt wo Gras legal ist … und diese Stadt wird sowieso immer mehr zu ›ner Kokainstadt, hm?» Er spuckte aus und sagte mit Abscheu: «Kokain! Verdammter american Psycho-Scheiß!!! Was ist nur mit Berlin los?! Wie auch immer … wenn du das nächste Mal welche von denen siehst, solltest du den Dealern sagen, dass sie im Juli einen legalen Cannabis-Club eröffnen sollen, eh?! Und hilf ihnen mit der Bürokratie, ja?! Du bist Deutscher, du verstehst diesen ganzen Scheiß! Ich meine, wir können nicht zulassen, dass hier dasselbe passiert … wie in den US-Bundesstaaten, wo die neuen, legalen Dealer alle ein Haufen reicher weißer Leute sind, während die Schwarzen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um das Zeug all die Jahre zu verkaufen, leer ausgehen … oder du weißt schon, sie verrotten immer noch im Gefängnis!» «Na ja, für Dealer gilt das nicht … aber wenigstens lassen sie hier in Deutschland alle frei, die immer noch nur wegen des Konsums von Marihuana im Knast sitzen, eh!», sagte Dan, während er beobachtete, wie sich die Polizisten nach einer offenbar erfolglosen Drogenrazzia zurückzogen. Luis nahm noch einen Zug von seinem Spliff und verkündete dann: «Wir werden den Rest davon direkt unter dem Brandenburger Tor rauchen!» Dan folgte ihm wieder nach draußen, und die U-Bahn brachte sie nach Norden. «Bekifft U-Bahn fahren ist echt hart!», jammerte Luis, «Sieh dir diese ganzen hässlichen Fratzen an!» «Hey, sei lieber dankbar, dass wir hier in Berlin den Luxus öffentlicher Verkehrsmittel haben und nicht aufs Auto angewiesen sind! Autofahren war für mich nie eine Option, weil die Cops Cannabis-Rückstände im Körper bei einer Verkehrskontrolle noch Tage später nachweisen konnten!» «Tja, sonderlich viel ändert sich da jetzt auch nicht, hm? Wie war das, sie wollen den Gernzwert jetzt von 1 auf 3,5 Nanogramm hochsetzen? Das ist doch immer noch viel zu niedrig! Aber nach zwei Maß Bier besoffen vom Volksfest nach Hause fahren, ist weiterhin kein Problem?!» An ihrem Zielort trafen sie auf laute Reggae-Musik aus tragbaren Lautsprechern und ein paar Polizisten, die den Bahnsteig bewachten. Sie gingen durch die hohen beigen Säulen und fanden auf der anderen Seite eine Bühne. «Deutscher Hip-Hop?!», rief Luis. «Uff! Warum? Hier? Jetzt?» Dan war von dem Sound auch nicht gerade begeistert und so gingen sie weiter auf die Siegessäule zu, bis rechts von ihnen die Panzer des sowjetischen Ehrenmals auftauchten. Ein Polizeiwagen war direkt davor geparkt, aber Dan beschwerte sich trotzdem: «Es sind noch gar keine Hippies auf die Dinger geklettert? Es ist ja wohl höchste Zeit, sie zu besteigen und Blumen in die Kanonenrohre zu stopfen, oder?“ Luis beschloss kurzerhand, auf einem der Geschütze zu reiten. Er schrie: «Yee-haw» und schwang dabei einen unsichtbaren Cowboyhut wild in der Luft herum. Als die Klänge von der Bühne in melodische Gitarrenriffs übergingen, machten sie sich auf den Rückweg, vorbei an Merch-Tischen und Bierverkäufern – die heute keine besonders guten Geschäfte zu machen schienen. Den Essensständen schien es besser zu gehen. Sie versorgten all die Kiffer, die einen plötzlichen Heißhunger verspürten. Der Gitarrist auf der Bühne hatte einen großen, falschen Bart, der DJ hinter ihm eine gewaltige Lockenperücke und beide hatten riesige Joints in den Mundwinkeln. Ihnen folgte eine Frau mit einer schwarzen Fuchsmaske. Auch sie zog eine Show mit deutschem Hip-Hop ab, aber irgendwie waren zumindest ihre Texte für die beiden deutlich leichter zu ertragen. «Das ist schon besser!», sagte Luis und nickte anerkennend. Als Dan klar wurde, wovon der Song handelte, den die Füchsin auf der Bühne nun angestimmt hatte, war er urplötzlich zu Tränen gerührt: «André B. war nur ein Kiffer und in den Taschen war nur Gras Ein Schuss in seinen Kopf, denn es war noch nicht legal Nie wieder zittern, keine Lügen im Gerichtssaal Amnestie für mein’n Ticker Wir rauchen Weed mit dem Richter Keine Brüder hinter Gittern Amnestie für mein’n Ticker»* Es folgte das Sample eines Nachrichtensprechers, der berichtete: «Um diese Ecke biegen die beiden Polizisten am 25. Juli 2014, als sie André B. wegen des Dealens mit Marihuana festnehmen wollen. Er versucht zu fliehen und wird dabei von hinten erschossen» ‹Nie wieder!›, dachte Dan bei sich, streckte seine geballte Faust in die Luft und blickte zur Deutschlandfahne hinauf, die auf dem Dach des nahegelegenen Reichstagsgebäudes wehte, und die ihm nun etwas weniger bedrohlich vorkam als zuvor. * Antifuchs – «Amnestie für meinen Ticker»