Sensationalismus rund um grünes Kraut: Die Verlagsgruppe Axel Springer SE veröffentlichte auf zwei ihrer Plattformen im Juni 2020 – im Grunde genommen – ein- und denselben Artikel. Sowohl in der B.Z. Berlin als auch der BILD erschienen Beiträge zu einer kanadischen Studie, laut welcher der Konsum von Cannabisprodukten bei Jugendlichen zu erhöhter Aggression führe. Das Paper stellt eine Nachfolgeuntersuchung einer bereits vor drei Jahren verfassten Arbeit dar.
Beide Gazetten postulieren „die bittere Wahrheit übers Kiffen„, festgehalten in einer wissenschaftlichen Studie, in kurzen, bündigen Artikeln. Demnach sollen Jugendliche und junge Erwachsene 2,15 mal mehr Gewaltsstraftaten als Nichtkonsumenten begehen.
Betrachtet man nun die zugrundeliegende Studie (Association Between the Use of Cannabis and Physical Violence in Youths: A Meta-Analytical Investigation), so kommt man nicht umhin zu Fragen, ob die Journalisten der BILD die Studie in ihrer Gänze gelesen und auch verstanden haben. So schreiben sie resümierend:
„Unter Berufung auf neurologische Untersuchungen erklärten die Forscher: »Cannabiskonsum während der Pubertät kann zu einer Verschlechterung der neuronalen Strukturen führen, die mit Hemmung und Sensationssucht verbunden sind.« Diese neuronalen Defizite könnten demnach die Fähigkeit einschränken, den Drang zu gewalttätigem Handeln zu unterdrücken.“
Zielsicher wurde damit eine kontroverse Mutmaßung aus der Ergebnissdiskussion (Dellazizzo et al. 2020, S. 5) gefischt, die dem „Reefer-Madness“-esken Narrativ vom gewaltätigen Cannabis-Junkie erstaunlich nahekommt.
Genau diese Behauptung folgt jedoch nicht aus den Ergebnissen der Studie – die sich keineswegs mit neuronalen Strukturen oder den psychopharmakologischen Effekten von Cannabis befasst. Bereits auf der nachfolgenden Seite (ebd., S.6) konstatieren die Autorinnen:
„Nichtsdestotrotz lassen die Ergebnisse einiger Studien auch auf eine umgekehrte Kausalität schließen; welche besagt, dass physische Gewalt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Wahrscheinlichkeit erhöht, im Laufe ihres Lebens Cannabiskonsument zu werden. (…)
Angesichts der begrenzten Anzahl der analysierten Studien sollten unsere Ergebnisse daher mit Vorsicht betrachtet werden“ (eigene Hervorhebung).
Doch nicht nur die eher laienhafte Wiedergabe durch die Boulevard-Magazine, sondern auch einige Aussagen der Studie selbst bieten einigen Grund zur Skepsis. Auf der einen Seite stehen dabei methodische Schwächen der Analyse selbst, auf der anderen Seite eine selektive Darstellung der zugrundeliegenden Studien.
1. Methodische Probleme
Bei der vorliegenden Forschungsarbeit handelt es sich um eine sogenannte Metaanalyse, dabei wird eine Reihe von Primärstudien, in diesem Fall insgesamt 30, zusammen statistisch ausgewertet. Grundsätzlich ist diese Vorgehensweise sinnvoll und wird häufig angewendet, wenn die Probandenzahl der einzelnen Primärstudien zu klein ist, um verlässlichere Ergebnisse zu produzieren.
Ein gängiger Fallstrick bei dieser Art von Forschung ist jedoch der unzulässige Vergleich verschiedener Studien(-aspekte), in der Literatur auch „Äpfel-und-Birnen-Problem“ genannt. Hier betrifft dies insbesondere die Konzeptionen von physischer Gewalt sowie „fortdauernden, schweren Konsum“ (Dellazizzo et al. 2020, S. 2).
In den meisten Fällen verließen sich die Studienautoren auf die Selbstauskünfte der Probanden. Schulkinder wurden beispielsweise gefragt, wie oft sie bereits in ernsthafte Kämpfe in der Schule verwickelt waren (vgl. Brook/Zhang/Brook 2011, S. 56).
Diese berichteten Gewalterfahrungen wurden in der Metaanalyse dann sowohl mit Fällen von Kneipenschlägereien durch Partyurlauber (Hughes et al. 2008) als auch mit Gewalt in Beziehungen verglichen (Foshee/McNaughton Reyes/Ennett 2010; Reingle et al. 2012; Temple et al. 2013). In einem weiteren Fall (Shorey et al. 2014 [females]) konnte keinerlei physische Gewalt festgestellt werden (2014, S. 8) – weshalb sich die Frage stellt, warum diese Studie überhaupt in die Wertung genommen wurde.
Diese Vorgehensweise ist nicht unzulässig, aber mindestens fraglich, denn Gewalt in Beziehungen hat laut gängiger kriminologischer Ansicht grundsätzlich andere Ursachen, die sich in der Regel beispielsweise auf konservativ-kulturelle Beziehungsvorstellung zurückführen lassen (etwa: Clinard/Meier 2014, S. 127). Demnach sollten diese verschiedenen Arten der Gewalt lediglich verglichen, nicht aber in einen Topf geworfen werden.
Ähnlich ungleich wird der Cannabis-Dauerkonsum operationalisiert. So wurde beispielsweise bei Shorey (2014) erfragt, ob die Substanz täglich konsumiert wurde, während Walton et al. (2009) und Scholes-Balog et al. (2016) wissen wollten, wie oft (oder ob) die Probanden im letzten Jahr Cannabis konsumiert haben. Herrenkohl et al. (2012, S. 41) untersuchten dagegen die Verfügbarkeit von Cannabis als Vorhersage für künftige Gewalt.
Während diese Entscheidungen für die betreffenden Studien sicherlich angemessen waren, kann nicht sinnvoll davon ausgegangen werden, dass deren Konzeption von Dauerkonsum problemlos verglichen werden kann – davon abgesehen, dass nicht nur Konsumfrequenz, sondern auch Faktoren wie die spezifische Qualität des Cannabis sowie der Mischkonsum mit anderen Substanzen eine bedeutende Rolle spielen.
2. Selektive Auswahl der Studien?
Soll bewiesen werden, dass Cannabis für signifikante Steigerung von physischer Gewalt verantwortlich ist, so müsste hinreichend zweifelsfrei dargestellt werden, dass sowohl kulturell-gesellschaftliche Faktoren als auch der Beikonsum harter Drogen (insbesondere Alkohol) in der Betrachtung vernachlässigt werden können.
Einen belastbaren Grund für die obigen Annahmen liefert keine der analysierten Studien, weshalb man sich durchaus die Frage stellen darf, aus welchem Grund sich die Autoren um Dellazizzo (Dellazizzo et al. 2020, S. 5), aber auch B.Z. und BILD an Spekulationen über vermeintliche Veränderungen der „neuronalen Strukturen“ durch Cannabis beteiligen, die Belegen sollen, warum Cannabis-User gewalttätiger sein sollen als andere Menschen.
Einige der Studien weisen interessanterweise direkt darauf hin, dass die Verbindung zwischen Cannabiskonsum und Gewalt nur dann signifikant ist, wenn keine weiteren Variablen (wie Alkoholkonsum) mit in die Rechnung einbezogen werden (vgl. Epstein-Ngo et al. 2013, S. 197).
Durch die hohe Prävalenz des Alkoholkonsums unter Jugendlichen konnte ohnehin oft nicht nachgewiesen werden, ob eine einzelne Substanz tatsächlich mit gewalttätigem Verhalten in Beziehung gesetzt werden kann (Liakoni et al. 2018, S. 2), sodass lediglich mit Sicherheit gesagt werden kann, dass der Konsum multipler psychotroper Substanzen in Verbindung mit Gewalt steht (Lowry et al. 1999, S. 353–354).
Mindestens im Falle von Grest et al. (Grest/Amaro/Unger 2018, S. 11) konnte nachgewiesen werden, dass Cannabiskonsum keinen signifikanten Vorhersagewert für Gewalt liefert (vgl. auch: Tinklenberg et al. 2012). Dargestellt wird dies in der Abbildung 2 der Studie, allerdings eher missverständlich – dort wird der Wert mit knapp über 1 als „favors perpetration of violence“ [dt.: „begünstigt die Ausübung von Gewalt“) angegeben.
Die statistischen Zusammenhänge zwischen Cannabiskonsum und Gewalt lassen sich nahezu vollständig auf die Auswirkungen der Prohibition zurückführen. So liest man bei Arsenenault (2000, S. 984):
„Illegale Drogenmärkte fördern Gewalt, weil die Akteure, wenn Transaktionen schief gehen, nicht auf legale Mittel der Streitbeilegung zurückgreifen können und die Einschüchterung von Gegnern durch Gewalt ihre verbleibende Option ist.“
Wo Verwicklung in physische Gewalt nicht unmittelbar mit der Prohibition verbunden werden kann, da finden sich fast in allen Fällen Belege für Gewalterfahrungen in der Jugend, welche die Entwicklung sowohl von Risikoverhalten (Schepis et al. 2011, S. 10; Grunbaum/Basen-Engquist/Pandey 1998, S. 153; Lowry et al. 1999, S. 354; Tucker et al. 2005, S. 326) als auch von problematischen Konsummustern begünstigen:
„Jugendliche, die von Gewalt betroffen waren, hatten eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie verstärkte Sensationssucht aufwiesen, leichten Zugang zu Drogen haben und in letzter Zeit Drogen angeboten wurden.“ (Salas-Wright et al. 2016, S. 1)
Ein Großteil der Studien stammt aus den USA, wo diverse Bevölkerungsgruppen bekanntermaßen struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind, zu deren Folgen nicht nur allgemeine gesundheitliche Probleme zählen, sondern auch eine Begünstigung von bestimmten kriminellen Delikten.
Diese milieuspezifische Gewaltexposition ist, betrachtet man die Studienlage, ein wesentlich besserer Prädiktor (vgl. auch: Wei/Loeber/White 2004, S. 166) für zukünftige physische Gewalt:
„Tatsächlich war die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe der verlässlichste Prädiktor für physische Übergriffe in der gesamten Stichprobe, mehr als eine der sieben Drogenkonsum-Variablen“ (Nabors 2010, S. 1057).
„Exposure to weapons and violent injury in the community was the sole consistent predictor across the four outcomes. [Four Outcomes: community violence perpetration, community violence victimization, dating violence perpetration, and dating violence victimization)]“ (Malik/Sorenson/Aneshensel 1997, S. 291)
Es ist also keine Leichtigkeit, mit statistischen (Sekundär-)Daten Kausalitäten zu beweisen. Wie die obigen Beispiele zeigen, kann es zwar Korrelationen zwischen Kriminalität und psychotropen Substanzen geben, schwieriger wird es aber zu behaupten, dass Konsum ursächlich für eine Verhaltensweise verantwortlich sein soll.
Der Grund dafür findet sich unter anderem in Stör- bzw. Drittvariablen, die sowohl Gewalt als auch Konsummustern zugrunde liegen können (z.B. die oben genannten Gewalterfahrungen). Einige der Studien haben genau diesen Umstand sichtbar gemacht, wenn sie sagen:
„(…) Unsere Studie war nicht darauf ausgelegt, Kausalität oder zeitliche Ordnung zwischen den beiden Verhaltensweisen zu bestimmen. Zweitens unterschieden wir nicht zwischen Mustern des experimentellen und des chronischen Substanzkonsums und bewerteten auch nicht die Muster des Konsums von Polysubstanzen im Zusammenhang mit Gewaltverhalten.“ (McNaughton Reyes et al. 2014, S. 9, eigene Hervorhebung)
„Es konnten keine zusätzlichen Analysen über den sozioökonomischen Status, psychologische Profile oder frühere Expositionen gegenüber dem Konsum illegaler Drogen und gewalttätigen Verhaltensweisen durchgeführt werden. Diese zusätzlichen Fragen hätten mögliche Störvariablen aufklären können.“ (Dukarm 1996, S. 800, eigene Hervorhebung)
„Zukünftige Studien sind notwendig, um unsere Erkenntnisse zu replizieren und die zeitliche Abfolge von Depressionen, Tabak- und Alkoholkonsum, Verhaltensproblemen und Marihuanakonsum unter jungen Heranwachsenden zu bestimmen“ (Forman-Hoffman/Glasheen/Batts 2017, S. 13, eigene Hervorhebung)
„Aber die Schlussfolgerung kausaler Beziehungen in Querschnittsstudien ist begrenzt. In diesem Aufsatz konzentrierten wir uns nur auf die Assoziationen und Beziehungen zwischen den Variablen, nicht aber auf deren kausale Interaktion“ (Lukash/Killias 2018, S. 10, eigene Hervorhebung).
Fazit
Betrachtet man die zugrundeliegenden Studien, so kann man mit einiger Sicherheit sagen, dass die Annahme, Cannabis mache gewalttätig, nicht aus den Daten hervorgeht. Nur durch eine eigenwillige Auswahl der Studien und deren selektive Wiedergabe kann diese Behauptung unterstützt werden.
Literatur
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Dirk Netter und Mirko Berger