Text: Marco Michel
Weltweit leiden über 280 Millionen Menschen an Depressionen. Da die heute zugelassenen Antidepressiva oft nicht zum gewünschten Erfolg führen, besteht ein großer Bedarf an neuen Medikamenten. Ein vielversprechender Ansatz ist hier die Behandlung mit klassischen Psychedelika, zu denen auch Dimethyltryptamin (DMT) gehört, der halluzinogene Hauptbestandteil von Ayahuasca. Dieser Pflanzensud wird im Amazonas seit Jahrtausenden für religiöse und rituelle Zwecke eingenommen. Nach zahlreichen Korrelationsstudien haben in den letzten Jahren auch klinische Studien zu ersten Belegen für die antidepressive Wirkung von Ayahuasca geführt. Nach diesen vielversprechenden Belegen für die antidepressive Wirkung von Ayahuasca werden randomisierte, placebokontrollierte, doppelblinde Replikationsstudien mit größeren Stichproben zeigen müssen, ob sich ein solcher Effekt tatsächlich nachweisen lässt.
Phänomenologie
Die Wirkung von Ayahuasca ist heterogen und hängt unter anderem von den synergistischen Interaktionen der beiden Hauptwirkstoffe DMT und β-Carboline ab (Schenberg et al., 2015). Weitere bedeutsame Einflussfaktoren sind die verabreichte Dosis sowie Set und Setting (Johnson et al., 2008). Die psychoaktiven Effekte treten nach ca. 20–40 Minuten auf, erreichen nach ca. 60–120 Minuten ihren Höhepunkt und halten circa vier Stunden an (Riba et al., 2001). Während der Wirkung von Ayahuasca wissen die Personen, dass sie unter dem Einfluss dieser Substanz stehen, sind örtlich orientiert, können klar kommunizieren, verhalten sich meistens still und bewegen sich wenig (Shanon, 2002). Auf der körperlichen Ebene führt die Einnahme von Ayahuasca zu einer leichten Erhöhung des Blutdrucks, des Herzschlags, der Atemfrequenz, der Körpertemperatur und des Pupillendurchmessers (Callaway et al., 1999; dos Santos et al., 2011). Darüber hinaus kommt es oft zu Übelkeit und Emesis sowie seltener zu Diarrhö (Shanon, 2002).
Auf der psychischen Ebene kann es zu folgenden, tiefgreifenden Veränderungen der Wahrnehmung, des Affekts und der Kognition kommen: Auf der perzeptuellen Ebene können beispielsweise Synästhesien, eine veränderte Raum- und Zeitwahrnehmung, sensorische Illusionen sowie als gelockert empfundene Grenzen zwischen sich selbst und anderen ausgelöst werden, auf der emotionalen Ebene können Euphorie und Freude, aber auch Angst und Schrecken erlebt werden, und auf der kognitiven Ebene kann es zu einer erhöhten Kreativität und Einsicht, aber auch zu Verwirrung und Orientierungslosigkeit kommen (Bogenschutz & Ross, 2018). Zu weiteren möglichen Wirkungen gehören visuelle Phänomene, dievor allem bei geschlossenen Augen auftreten und von farbigen, geometrischen Mustern bis hin zu komplexen, traumartigen Szenen reichen (Shanon, 2002). Außerdem wird oft von folgenden Erlebnissen berichtet: Gesteigertes Introspektionsvermögen, mystische Erfahrungen sowie vorübergehend auftretende Angst, Dissoziation und Depersonalisation (Callaway et al., 1999; Palhano-Fontes et al., 2019; Riba et al., 2001; Shanon, 2002). Es kann darüber hinaus zum Erleben eines Ego-Verlusts (Leary et al., 1963) oder eines Ego-Tods (Grof & Halifax, 1977) kommen.
Die wichtigsten Studien
Für die antidepressive Wirkung von Ayahuasca liegen inzwischen Belege aus präklinischen Studien, Korrelationsstudien, Studien mit gesunden Freiwilligen sowie aus drei klinischen Studien mit Personen vor, die unter einer behandlungsresistenten Major Depression Disorder (MDD) leiden (dos Santos et al., 2018). Somit befindet sich die Forschung laut Santos et al. (2018) in Phase II (von insgesamt drei Phasen bis zu einer allfälligen Zulassung als Medikament). Überblick über die relevantesten Studien (aus naturalistischen und klinischen Settings), die Hinweise auf die antidepressive Wirkung von Ayahuasca lieferten
Jahr | Autor*innen | Art der Studie |
2019 | Palhano- Fontes et. al | Erste placebokontrollierte, randomisierte, doppelblinde Studie mit VP mit behandlungsresistenter MDD |
2018 | dos Santos et al. | Erste Langzeit-Follow-Up-Studie mit VP mit rezidivierender MDD |
2015 | Osório et al. | Erste Open-Label-Studie mit VP mit rezidivierender MDD |
2007 | dos Santos et al. | Erste placebokontrollierte, doppelblinde Studie mit gesunden VP |
1996 | Grob et al. | Erste Korrelationsstudie mit rituellen Ayahuasca-Nutzer*innen |
Belege aus klinischen Settings
Drei klinische Studien, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird, erbrachten erste Belege dafür, dass Ayahuasca schon nach einer einzigen Dosis sehr schnell (nach 80 Minuten bzw. nach einem Tag) antidepressiv wirkt. Osório et al. (2015) untersuchten in einer stationär durchgeführten Open-Label-Studie sechs Versuchspersonen (VP) mit einer rezidivierenden MDD. Nach einer einzigen Dosis wurden die Depressionswerte erhoben – anhand der Fremdbeurteilungskalen Hamilton Rating Scale for Depression (HAM-D), Montgomery-Åsberg Depression Rating Scale (MADRS) und der Anxious-Depression Subskala der Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS). Zwischen den Ausgangswerten und den Messungen nach 180 Minuten sowie einem, sieben und 21 Tagen nach Verabreichung wurde eine signifikante Reduktion der Depressionswerte von bis zu 82 % festgestellt (MADRS: bereits nach 180 Minuten, HAM-D: nach einem Tag). Diese Studie lieferte demnach erste Belege für eine sehr schnell einsetzende antidepressive Wirkung von Ayahuasca bei Personen mit MDD. Nach Publizierung der vorläufigen Resultate dieser Studie wurden ein Jahr später die Ergebnisse der finalen Stichprobe (17 VP) von Sanches et al. (2016) veröffentlicht (identische Designs und Bedingungen). Auch Sanches et al. (2016) stellten nach der Behandlung eine sehr schnelle signifikante Reduktion der Depressionswerte fest (MADRS und HAM-D: bereits nach 80 Minuten), die ebenfalls drei Wochen andauerte.
Die erste placebokontrollierte, randomisierte und doppelblinde Studie wurde von Palhano-Fontes et al. (2019) durchgeführt. Sie untersuchten die antidepressive Wirkung von Ayahuasca bei Personen mit einer behandlungsresistenten MDD und konnten die Ergebnisse von Sanches et al. (2016) teilweise replizieren. Die VP erhielten jeweils eine Dosis Placebo oder eine Dosis Ayahuasca. Die Depressionswerte wurden nach einem, zwei und sieben Tagen mit den Fremdbeurteilungsskalen MADRS und HAM-D erhoben und mit den Ausgangswerten verglichen. Dabei zeigte sich, dass eine einzige Dosis Ayahuasca eine signifikante Reduktion der depressiven Symptomatik zu jedem der drei Messzeitpunkte zur Folge hatte. Während es am 7. Tag bei 64 % der Experimentalgruppe eine signifikante Verbesserung gab, war dies nur bei 27 % der Placebo-Kontrollgruppe der Fall (erhoben mit MADRS). Zusammenfassung der wichtigsten Punkte dieser drei klinischen Studien
Sanches et al., 2016 (inkl. Osório et al., 2015) | Palhano- Fontes et. al., 2019 | |
Design | Open-Label | Placebokontrolliert, randomisiert, doppelblind |
Auswahlkriterium | Behandlungsresistente MDD (> 1 erfolglose Behandlungsversuch mit Antidepressiva) | Behandlungsresistente MDD (> 2 erfolglose Behandlungsversuche mit Antidepressiva) |
Anzahl VP | 17 | 29 |
Dosierung | 1,76 mg DMT/kg Körpergewicht | 0,36 mg DMT/kg Körpergewicht |
Kontrollgruppe | Keine | Placebo-Kontrollgruppe |
Resultate | Signifikant reduzierte Depressionswerte ab 80 Minuten bis 21 Tage nach Einnahme | Signifikant reduzierte Depressionswerte ab 1 Tag bis 21 Tage nach Einnahme |
Messinstrumente | HAM-D und MADRS | HAM-D und MADRS |
Hauptlimitationen | Open-Label-Studie, keine Kontrollgruppe, kleine Stichprobe, mögliche Konfundierung mit Vorzügen einer stationären Behandlung | Kleine Stichprobe |
Anmerkung. In Anlehnung an Rosenblat et al., 2023, S. 11.
Lucys Xtra
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