Die psychedelischen Lehren der antiken Philosophie

Platons Lehren als Leitwerk für psychedelische Erfahrungen

Illustration des Höhlengleichnisses | Creative Commons BY-SA 4edges

Die ursprüngliche schamanische und magische Praxis vieler Kulturen widmete sich, neben Heilung und Hedonismus, einem weiteren Aspekt: der Erforschung des Wesens der Realität. Viele dieser Gedankensysteme basieren auf der Grundannahme, dass die wahrgenommene Alltagsrealität allenfalls eine Abstraktion der „unendlichen“ Wirklichkeit darstellt.

Diese Vorstellung findet sich kulturübergreifend, sowohl in der indischen Philosophie im Begriff maya (von माया māyā „Illusion“), bei diversen gnostischen Strömungen in der (Trug-)Welt des Demiurgen, bei den Religionen der australischen Aborigines als „Traumzeit“ (auch: tjukurrpa) sowie in der Gedankenwelt von Carlos Castaneda im Begriffspaar von Tonal und Nagual (Castaneda, 1978: 140).

Auch der antike griechische Philosoph Platon beschäftigte sich damit, wie der Mensch seine Wirklichkeit erfahren kann und wie sich die Grundstruktur dieser Wirklichkeit gestaltet – diese Felder werden Erkenntnistheorie oder Epistemologie sowie Ontologie (etwa: Lehre vom Seienden) genannt.

Platon, der um 427 bis 348 v.u.Z. lebte, war Schüler des Sokrates und Lehrer des Aristoteles. Er vermittelte seine philosophischen Theorien in literarischer Dialogform. So werden seine Lehrgleichnisse im Werk Politeia vom literarischen Sokrates vorgetragen.

Das Höhlengleichnis zählt zu den prominentesten philosophischen Lehrstücken, da es aufgrund seiner Anschaulichkeit sowohl in den Bildungseinrichtungen als auch in der Populärkultur großen Anklang findet.

Weniger bekannt sind die beiden vorherigen Gleichnisse, welche das Verständnis der eigentlichen Botschaft dieses Gleichnisses deutlich erleichtern. Diese Trias kann, in einer entsprechenden Lesart, als eine Veranschaulichung der psychonautisch-entheogenen Erfahrung betrachtet werden.

Die Ideenlehre – Die materielle Welt als Abbild einer unendlichen Sphäre von Ideen

Grundlage vieler platonischer Gedanken ist die sogenannte Ideenlehre. Dieses in philosophischen Kreisen hitzig diskutierte Konzept besagt, dass allen physisch wahrnehmbaren Dingen eine Idee zugrunde liegt. Diese Ideen sind nur mit dem Verstand erfassbar (intelligibel), sie haben keine materielle Gestalt und sind zeitlich unveränderlich – doch geben sie allen Dingen in der physischen Welt ihre Form.

Die Welt der Ideen ist also nicht nur unendlich, sondern auch vollendet. Sie ist das eigentliche Sein, das der erfahrbaren Welt ihre Form gibt. Die Ideen sind in ihren Merkmalen von göttlicher Natur, die Götter erreichen ihre Göttlichkeit erst durch den Zugang zu den Ideen selbst.

Wahre Erkenntnis kann nicht durch die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen erreicht werden. Diese erzeuge, laut Platon, nur Meinungen. Echtes Wissen könne nur durch die Inspektion der eigentlichen Quelle des Wissens, der Idee selbst, gewonnen werden.

Die wichtigste, und gleichzeitig schwerste Lektion im platonischen Denken, ist die Idee des Guten. Sie ist der Ursprung aller Tugenden, und durch ihr Verständnis wird alles Wissen nützlich und vorteilhaft. Erst die Erkenntnis des „Guten“ ermöglicht es, tugendhaft zu leben, da jede Tugend ihren Ursprung darin findet.

Sonnengleichnis – Das Licht der Vernunft

Deutlich wird die Ideenlehre in der Anwendung in Platons Sonnengleichnis:

Neben den anderen Sinnen, habe der Sehsinn eine Sonderstellung inne. Nur durch das Licht könne der Mensch die Objekte, die er betrachtet, auch wahrnehmen. Analog zum Sehvorgang verhalte sich auch der Vorgang der Erkenntnis.

Die Vernunft (als Sehkraft der Seele) könne nur dann Objekte verlässlich wahrnehmen, wenn das Licht des Guten auf sie scheine. Vergängliche Dinge, die mit den Sinnen wahrgenommen werden, sind schlecht vom geistigen Lichte beschienen (weil sie weit von der Lichtquelle des Guten entfernt sind), während Ideen stets von selbigem erleuchtet werden.

Anmerkung: Sowohl die Analogie von Sonne und „dem Guten“ oder dem „absolut Göttlichen“ als auch die Bedeutung der Sehkraft finden sich in nahezu allen ursprünglichen religiös-spirituellen Glaubenssystemen der Welt (beispielsweise in Sonnenkulten und Personifikationen der Sonne).

Liniengleichnis – Vom Glauben zur Erkenntnis

Im Liniengleichnis wird diese Denkweise spezifiziert:

Der erreichbare Wahrheitsgehalt einer Erkenntnisform wird in diesem Bild davon bestimmt, welcher Grundlage es entspringt. Unzureichende Sinnesdaten, wie zum Beispiel Schatten von Objekten oder Zerrbilder auf Wasseroberflächen (= Abbilder der Realität), sorgen nur für unzureichend begründete Vermutungen (eikasía). Unmittelbare Sinnesdaten (der Anblick eines Baumes) sind dabei verlässlicher, bieten aber noch immer das Potenzial für Täuschungen. Beide Erkenntnisformen produzieren jedoch nur Meinungen (dóxa).

Vernunftseinsicht (nóēsis) hat ihre „Datengrundlage“ nicht mehr in der vergänglichen Welt der sinnlichen Anschauung, sondern nur noch in der geistigen. Beispielhaft dafür ist die Mathematik, die ihre Basis in imaginären Zahlen und Formen legt (Begriffliches denken, diánoia). Die höchste Erkenntnis (epistḗmē) kann jedoch nur dann erlangt werden, wenn die Ideen selbst untersucht werden.

Anmerkung: Die genannten Erläuterungen sind als Metaphern zu verstehen und können auf alle sinnlichen Wahrnehmungen gleichermaßen angewendet werden. So kann die Betrachtung einer Pflanze rein visuell erfolgen oder aber durch das Licht der Erkenntnis. Insbesondere durch die Werke der Naturmystiker können solche Betrachtungen vermittelt werden.

Das Höhlengleichnis – Die Grenzen der Alltagsrealität

In einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung leben einige Menschen, die ihr ganzes Leben als Gefangene verbracht haben. Da die Gefangenen am Nacken und an den Schenkeln festgebunden sind, können sie nur die vor ihnen liegende Felswand betrachten. Weder sich selbst, ihre Mitmenschen, noch den direkt hinter ihnen liegenden Ausgang, können sie demnach sehen.

Hinter den Gefangenen lodert ein Feuer, davor befindet sich noch eine kleine Mauer. Zwischen der Lichtquelle und der Mauer laufen Menschen umher. Sie tragen Objekte, welche die Form von Gegenständen und Lebewesen aufweisen. Diese Gegenstände werfen durch das Licht des Feuers einen Schatten an die Felswand vor den Gefangenen, während die Schatten der Träger von der Mauer abgefangen werden (siehe auch: Abbildungen). Die Stimmen der Träger werden so vom Widerhall der Höhle zurückgeworfen, als wären es die Stimmen der Schatten.

Für die Gefangenen, die nur die Schatten an der Felswand sehen können, ist alles, was sie dort sehen können, die einzige und gesamte Wirklichkeit. Sie entwickeln eine Wissenschaft, mit der sie versuchen, das Auftreten und die Bewegungen der Schatten vorherzusagen. Wer dies am besten zu tun vermag, wird von den anderen Gefangenen mit Lob geehrt.

Im Gedankenspiel wird nun einer der Gefangenen losgebunden. Er wird genötigt, sich umzudrehen und sich den Gegenständen und dem Feuer zuzuwenden, welches seine bisherige Wirklichkeit produzierte. Verwirrt von der Szenerie und geblendet vom Licht des Feuers, würde sich die Person von diesem Anblick abwenden – erscheint sie doch weniger real, als die Realität der Felswand.

Zweifellos würde die Person die gewohnte Wirklichkeit der verwirrenden Realität vorziehen und den potenziellen Befreiern keinen Glauben schenken, würden diese erläutern, dass die Realität der Felswand nur ein Zerrbild der Phänomene darstellt.

Würde man die Person aber dazu zwingen, die Höhle zu verlassen, wäre sie vom Licht der Sonne noch weit stärker geblendet und verwirrter als zuvor. Langsam würde sie sich aber an den neuen Anblick gewöhnen und zunächst Schatten, dann Dinge und später den Nachthimmel und schließlich die Sonne selbst betrachten können.

Nun würde sie begreifen, dass es die Sonne ist, die den Schatten der Dinge erzeugt. Durch diese Erfahrung, hätte sie kein Bedürfnis mehr, in die Trugwelt des Höhlengefängnisses abzusteigen.

Würde die Person trotzdem an ihren Platz in der Höhle zurückkehren, müssten sich ihre Augen erst wieder an die Dunkelheit gewöhnen. Sie hätte große Schwierigkeiten, die Bewegungen der Schatten zu deuten und gleichzeitig würden sie ihre Mitgefangenen auslachen, hätte sie sich doch ganz offensichtlich die Augen verdorben.

Ein Verlassen der Höhle könne sich deshalb – so die Quintessenz – nicht lohnen. Wenn jemand versuchen würde, diese Gefangenen zu befreien, so würden sie ihn umbringen, wenn sie könnten.

Bedeutung der Lehren für die psychedelische Erfahrung

Angelegt in der Ideenlehre findet sich, wie bereits angedeutet, das Bild einer unendlichen, zeitlosen und formgebenden Realität, der die Alltagsrealität zugrunde liegt. Alle Dinge haben ihr eigenes fortwährendes Wesen. Während die materielle Form in stetigem Wandel ist, bleibt das allgemeine Wesen der Dinge (Ideen) stets gleich.

Die Phänomene der Alltagswelt spiegeln nicht die absolute Realität wider, sondern sind nur ein Abbild einer weitaus komplexeren Realität. Die Unterscheidung von Glauben, Meinung und Erkenntnis verweist darauf, dass die Erfahrungen, auf denen wir unser Wissen begründen, die Wahrheit dessen begrenzen.

Deutlicher wird diese Aussage im Unterschied zwischen Religion und mystischer Erfahrung. Während die Religion meist einen Vermittler zwischen Gott(-heiten) und den Menschen setzen, basiert die mystische Erfahrung auf einer persönlichen Begegnung mit dem Göttlichen bzw. einer Einheitserfahrung mit selbiger.

Weder psychedelische noch mystische Erfahrungen können durch Schrift oder Sprache sinnvoll vermittelt werden – einzig die direkte persönliche Erfahrung kann Erkenntnis (epistḗmē) liefern.

Im Höhlengleichnis, dem zentralen Lehrstück, werden eine solche mystische Erfahrung und ihre Auswirkungen geschildert. Zunächst geht die Erfahrung mit einer Erschütterung der Alltagsrealität einher, nur die Gewöhnung (= Übung) bietet eine Möglichkeit, diese Blendung und Verwirrung zu überwinden.

Wichtig für diese Übung ist die absolute Tugendhaftigkeit, nur durch strikte Vorbereitung kann eine solche profunde Erfahrung sinnvoll verarbeitet werden. Platon selbst schlägt das Studium der Arithmetik, Geometrie, Astronomie sowie Harmonielehre vor, welche von Unterricht in Gymanstik und Musik begleitet wird (vgl. auch: Die Makellosigkeit des Kriegers (Castaneda, 2006: 23f)).

Tatsächlich verändert der geistig-körperliche Zustand des Körpers die psychedelische Erfahrung wie kaum ein anderer Faktor. Bewusstseinsverändernde Substanzen kommunizieren ihre Botschaft in einer Sprache der Bilder – die Reichhaltigkeit und Klarheit dieser Kommunikation wird durch die Fähigkeiten des Empfangenden begrenzt (ergo: Der geistige „Wortschatz“ und Reichtum an Theorie skizziert den Rahmen der Möglichkeiten).

Körperliche Gesundheit hat eine starke Verbindung zur geistigen Leistungsfähigkeit und zum Wohlbefinden. Zwar bedeutet dies nicht, dass versehrte Menschen schlechter denken, tatsächlich lassen sich aber geistige Ressourcen durch eine angemessene körperliche Fitness aktivieren. Beispielsweise im Yoga oder Tai-Chi wird deutlich, wie eng körperliche Positionen die Wahrnehmung beeinflussen. So werden auch mystische Erfahrungen oft durch physisch-körperliche Extremsituationen, wie Schlafmangel, Hunger oder Schmerz, ausgelöst.

Anmerkung: In Castanedas Werken wird eine (nicht ungefährliche) Technik beschrieben, die es ermöglichen soll, durch einen gezielten Stoß auf eine bestimmte Stelle des Körpers eine starke Veränderung der Wahrnehmung herbeizuführen. Nach dieser Theorie befindet sich am energetischen Körper des Menschen ein prinzipiell verschiebbarer Montagepunkt, dessen Position unsere Wahrnehmung der Realität bestimmt (Das Feuer von innen, 1987, p. 197).

Kann nun durch gezielte Übung die Blendung durch die Sonne (in unserem Beispiel die Überwältigung durch die psychedelische Erfahrung) überwunden werden, so bleibt ein weiterer Fallstrick: Der Mensch kann zunächst nicht für immer in dieser Welt leben. Die Erfahrungen, die an der Oberfläche gemacht wurden, müssen zurück in die Welt der Höhle, unsere Alltagswelt, gebracht werden.

Die Erkenntnisse der Erfahrung klingen für die Mitgefangenen zunächst sehr verwirrend und sind nicht zwangsläufig notwendig für das Überleben in der Höhle. Doch durch gezielte Beschäftigung können die Erfahrungen für das Selbst und die Außenwelt anschlussfähig gemacht werden und somit von enormem Nutzen sein. Diese Praxis, im therapeutischen Kontext auch Integration genannt, ist ein essentieller Teil der psychedelischen Erfahrung.

Grundlegend für alle tugendhaften Handlungen ist die „Idee des Guten“. Sie stellt das oberste Prinzip in Platons Denken dar. Verstanden wird sie jedoch entweder kindlich-naiv („Er gibt mir Essen, er ist gut“) oder es herrscht die Vorstellung, dass das Gute mit „der Lust“ oder „Einsicht“ gleichzusetzen sei.

Obwohl Platon einer eigentlichen Definition des Guten schuldig bleibt, skizziert er doch eine Erfahrung, die viele psychonautisch Reisende bestätigen können: Die Erkenntnis einer schöpferischen Kraft, die alles Sein (alle Erfahrung) hervorbringt und alles Bewusstsein des Universums ist.

Annähernd jede begriffliche bzw. kognitive Fixierung dieses Phänomens muss zwangsläufig scheitern, da die Erkenntnis nur in der direkten Erfahrung zugänglich ist. Dennoch folgen aus der „Einigkeit“ mit dieser Kraft oft Einsichten, welche die Parallelen des psychedelischen Weges mit vielen spirituellen Systemen verdeutlichen.

So bemerkte bereits Albert Hofmann (und nach ihm viele weitere Pioniere der Psychedelik), dass die psychedelische „Einheitserfahrung“ zu einer besonderen Wertschätzung der Natur – und damit der Achtung allen Lebens einhergeht (z.B. Doblin et al. 2014. Kapitel 7; sowie Hofmann 2019).

Insbesondere in Zeiten von Krisen und großen gesellschaftlichen Veränderungen können die aus nachhaltigen psychedelischen Erfahrungen erwachsenden Erkenntnissen nicht nur Hoffnung spenden, sondern auch als Ideengeber dienen, um eine friedliche und lebenswerte Welt zu schaffen.

 

Literatur:

  • Castaneda, C., (2006): Die Lehren des Don Juan: Ein Yaqui-Weg des Wissens. Fischer, Frankfurt am Main.
  • Castaneda, C., (1978): Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten., 25th ed. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main.
  • Castaneda, C., (1987): Das Feuer von innen, 15th ed. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main.
  • Doblin, R.P., Burge, B., Hoffman, A., Dass, R., Shulgin, S., (2014): Manifesting Minds: A Review of Psychedelics in Science, Medicine, Sex, and Spirituality. Evolver Editions.
  • Hofmann, A., (2019): LSD – Mein Sorgenkind: Die Entdeckung einer “Wunderdroge”, 8. Druckaufl. ed. Klett-Cotta, Stuttgart.

 

Dirk Netter