Louis Lewin, geboren am 9. November 1850, war ein Arzt, Pharmakologe, Toxikologe und profilierter Autor. Durch seine Beiträge zur Toxikologie gilt er als ein wesentlicher Begründer der modernen westlichen Drogenforschung.
Kein leichter Start
Als Sohn zweier „illegaler“ polnischer Einwanderer wuchs Lewin im Berliner Scheunenviertel auf. Das Viertel, heute Berlin-Mitte, kann ohne Beschönigung als „Ghetto mit offenen Toren“ bezeichnet werden, seit 1737 allen Berliner Juden befohlen wurde, ausschließlich dort zu leben.
Der wissbegierige Junge besuchte zunächst die hebräische Schule, brachte sich jedoch die deutsche Sprache im Eigenstudium bei, so dass er bald das Friedrichwerdersche Gymnasium besuchen konnte. Da seine Eltern das Schulgeld nicht entrichten konnten, erhielt er ein Stipendium (Lewin 1990, S. X).
Akademische Laufbahn
Nach erfolgreichem Abitur studierte er Medizin und verteidigte 1875 seine preisgekrönte Dissertation „Experimentelle Untersuchungen über die Wirkungen des Aconitins auf das Herz“. Im folgenden Jahr erhielt Lewin seine Approbation als Arzt, woraufhin er zunächst Militärarzt und schließlich als Forscher in den Labors von Carl von Voit und Max von Pettenkofer arbeitete.
Drei Jahre später bewarb er sich vergeblich am pharmakologischen Institut der Charité unter Oskar Liebreich. Dieser war der Entdecker der schlaffördernden Eigenschaften von Chloralhydrat.
Lewin durfte am Institut forschen, bekam jedoch keine Räumlichkeiten zugewiesen, so dass er sich private Räume nahe der Charité anmieten musste.
Ein beliebter Dozent
Lewin, der keinen offiziellen Lehrauftrag bekam, galt als hervorragender Dozent und war bei den Studierenden deshalb sehr beliebt (Hentschel 2010). Sein Kollege und Zeitzeuge Wolfgang Heubner berichtet:
»Im Unterricht war Lewin eine Berühmtheit, scharenweise strömten die Studenten zu ihm … Die Vorlesungen des damaligen Ordinarius für Pharmakologie (Anm.: gemeint ist Arthur Heffter) waren derart fade, daß aus dessen schönem Hörsaal mit den neuesten Errungenschaften in puncto Demonstration, Tierversuchen usw. eine allgemeine Flucht einsetzte …«
Ein weiterer Kollege, Siegfried Walter Loewe, bestätigt:
»Er lehrte unbekümmert um Schul- und Tagesmeinung. Sarkastisch schwang er die Geißel. Drastischer Humor gestaltete den Gegenstand anschaulich, und reicher Anekdotenschatz stellte Hilfen. Doch das allein kann nicht der Grund gewesen sein, warum Lewin seinen Hörsaal das ganze Semester hindurch unvermindert voll hatte. Es war das unausweichliche Gefühl, da er aus eigenstem reichem Erleben den Stoff formte, dass hier ein Gehirn von vielseitiger Begabung gedrängtestes Wissen aus Historie, Naturwissenschaft, Medizin und Alltag gespeichert und darin sein Fachwissen verankert hatte, – und von dem allem übersprudelnd an den Hörer abgab.«
Disput mit Sigmund Freud
Schon zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere beschäftigte sich Lewin mit verschiedenen psychotropen Drogen. So auch sein Interesse an Kokain- und Morphinismus. 1885 kam es zum Streit zwischen ihm und Sigmund Freud, da dieser der Meinung war, er könne die Morphinabhängigkeit seiner Patienten mit Kokain therapieren.
Lewin widmet sich diesem Disput in seinem Werk „Phantastica“ (1924, S. 71):
»Die unglückselige Idee sprach ein morphinistischer Arzt damals aus, daß man den Morphinismus durch Kokain vertreiben könne. Ich erhob sofort dagegen Einspruch und sagte voraus, es würde dadurch erreicht werden, daß ein solcher Mensch dann beide Stoffe gebrauchen, daß er dann einer ,,gepaarten Leidenschaft“ sich hingeben würde. So ist es gekommen. Und mehr noch! Das Kokain allein begann ziemlich bald als Genußmittel gebraucht zu werden.«
Zeitlebens hielt Lewin wenig vom Œuvre des Wiener Psychoanalytikers, er soll Freud sogar als „Joseph der Traumdeuter“ verspottet haben (vgl. Hentschel 2010).
Forschungsreise nach Nordamerika
In den Jahren 1886 und 1887 bereiste er die USA und Nordamerika und wurde dort durch seine Reisebegleitung auf Peyote-Buttons aufmerksam gemacht, die sogleich sein Interesse wecken sollten. Die Tagebücher dieser Reise wurden 1990 postum veröffentlicht (vgl. Lewin 1990).
Nach seiner Heimkehr wendete sich Lewin an einen Berliner Botaniker, der ihm die mitgebrachten Pflanzenteile als Anhalonium williamsii nahestehend erkannte und sie zu Ehren Lewins mit dem Namen Anhalonium lewinii belegte“ (Passie).
Folgenreiche Auseinandersetzung
In den folgenden Jahren versuchte er das Wirkprinzip dieser Anhalonium lewinii (heute: Lophophora williamsii var. lutea) zu ergründen.
Lewin verbrachte mehrere Jahre damit, die entsprechenden Alkaloide (allen voran Meskalin) im Kaktus zu isolieren – was jedoch erst Arthur Heffter im Jahr 1896 gelingen sollte.
Es brach ein Gelehrtenstreit zwischen den beiden Forschern aus, da Lewin der Meinung war, dass die Entdeckung eigentlich ihm gebühren sollte. Wolfgang Heubner, der Ordinarius für Pharmakologie, entschied schließlich im Sinne von Heffter.
Dieser Streit gilt als einer der ausschlaggebenden Gründe, weshalb Heffter anstatt Lewin schließlich die Leitung des Institutes übertragen bekam.
Verdienste in der Drogenforschung
Neben seinen Forschungen an Lophophora williamsii, wurde Lewin besonders für sein originelles Klassifikationssystem der psychotropen Pflanzen bekannt. In „Phantastica“ (1924) unterteilte er die entsprechenden Drogen anhand ihrer pharmakologischen Wirkung in fünf Kategorien (vgl. Lewin 1924, S. V–VIII):
- Euphorica. Seelenberuhigungsmittel (Opium, Morphin, Codein, Kokain)
- Phantastica. Sinnestäuschungsmittel (Lophophora williamsii, Cannabis indica, Fliegenpilz und Nachtschattengewächse).
- Inebriantia. Berauschungsmittel (Alkohol, Chloroform, Äther, Benzin),
- Hypnotica. Schlafmittel. (Chloralhydrat, Veronal, Paraldehyd, Kava, Kanna),
- Exitantia. Erregungsmittel (Kampher, Betel, Kat, Koffein, Kolanuss, Kakao, Tabak)
Das Buch und viele weitere Werke können beim Internet-Archiv kostenlos bezogen werden.
Lebensabend und Ehrungen
Zeit seines Lebens galt Lewin als Menschenfreund, der sich insbesondere für die Arbeiter und sozial Benachteiligte einsetzte. So war er unter anderem Mitglied eines Komitees für Obdachlosenasyl (zusammen mit Rosa Luxemburg und August Bebel) sowie Gutachter in zahlreichen Gerichtsverhandlungen.
Erst ein Schlaganfall im Jahr 1924 zwang ihn, sein öffentliches Leben einzuschränken. Sein publizistischen Tätigkeiten gab er jedoch nie auf. Insgesamt soll er 265 Schriften hinterlassen haben.
Mit seinem Tod im Jahr 1929 blieb ihm, im Gegensatz zu seiner Frau Clara, der Mord im Konzentrationslager erspart. Seine sterblichen Überreste wurden im jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt. In seiner ehemaligen Wirkungsstätte wurde eine Gedenktafel angebracht. Im Berliner Stadtteil Hellersdorf tragen eine Straße und ein Bahnhof der U-Bahn seinen Namen.
Literatur:
Hentschel, A. (2010): Vor 150 Jahren wurde Louis Lewin geboren. In: DAZ.online. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2010/daz-48-2010/vor-160-jahren-wurde-louis-lewin-geboren (8. November 2020).
Lewin, L. (1920): Die Gifte in der Weltgeschichte. Toxikologische allgemeinverständliche Untersuchungen der historischen Quellen
Lewin, L. (1924): Phantastica: Die betäubenden und erregenden Genussmittel für Ärzte und Nichtärzte.
Lewin, L. (1894): Die Pfeilgifte: Historische und experimentelle Untersuchungen
Lewin, L. (1990): Durch die USA und Canada im Jahre 1887: Ein Tagebuch. 2. Aufl. 1990. Softcover reprint of the original 2nd ed. 1990 Edition.
: Der Toxikologe LOUIS LEWIN (1850 – 1929)
Passie, T.: Meskalinforschung in Deutschland 1887-1950. Grundlagenforschung, Selbstversuche und Missbrauch. In: bewusstseinszustände.de. http://www.bewusstseinszustaende.de/index.php?id=73 (8. November 2020).
Dirk Netter