In den Untiefen des Gehirns

Fragen an den Bewusstseinsforscher Milan Scheidegger

Auszug aus dem Heft

Milan Scheidegger ist ein visionärer und integrativer Denker mit akademischem Hintergrund in Medizin, Neurowissenschaften, Philosophie und Psychiatrie und der Leidenschaft, die Natur der menschlichen Existenz von ihrer molekularen Basis bis hin zur Ebene des Bewusstseins zu verstehen. Durch sein fundiertes Wissen über Biosemiotik, Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie und Phänomenologie des Bewusstseins, Achtsamkeit und Tiefenökologie entwickelte er eine erweiterte Sichtweise auf das Leben. Er hat sich zum Ziel gesetzt, die «Transformative Psychotherapie» zu entwickeln, eine neuartige, richtungsweisende Behandlungsform, die einen Wechsel von der pharmakologischen Substitution hin zur integrativen transformativen Gesundheitsversorgung befürwortet.

Milan Scheidegger (*1982) ist Assistenzarzt an der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (Universität Zürich). Nach Abschluss seiner Doktorandenausbildung in funktioneller und molekularer Bildgebung am Institut für Biomedizinische Technik (ETH Zürich) erforscht er weiterhin die Neurobiologie und Pharmakologie veränderter Bewusstseinszustände und deren Potenzial zur Verbesserung des psychischen Wohlbefindens. Daneben erwarb er einen M.A. in Geschichte und Philosophie des Wissens (ETH Zürich). Auf seinen ethnobotanischen Expeditionen nach Mexiko, Kolumbien und Brasilien erforschte er die traditionelle Verwendung von psychoaktiven Pflanzen in indigenen Ritualen. Er ist Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psycholytische Therapie (SÄPT) und der MIND (European Foundation for Psychedelic Science) sowie ehemaliger Stipendiat der Schweizerischen Studienstiftung. 2013 erhielt er den Young Investigators Award der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie.

 

Ein zentraler Begriff rund um dein Schaffen ist «transformative Psychotherapie». Das liest sich im ersten Moment wie «süßer Honig» oder «runder Ball». Ist nicht jede Psychotherapie im Erfolgsfall transformativ? Warum diese Akzentuierung?
Milan Scheidegger: Es stimmt, generell ist das Ziel jeder psychiatrischen Therapie die Überführung eines maladaptiven in einen adaptiveren Gesundheitszustand. Im Gegensatz zur klassischen substitutionsbasierten Behandlung, bei der man beispielsweise mit Antidepressiva einen Mangel an Serotonin im Gehirn depressiver Patienten auszugleichen versucht, stellt die transformative Psychotherapie eine neue innovative Behandlungsoption dar. Sicher tragen Psychopharmaka bei vielen psychiatrischen Erkrankungen zu einer Linderung des Leidens bei, sie steigern aber nicht die individuelle Kompetenz des Patienten, adaptivere Bewusstseinszustände nachhaltig zu stabilisieren.
Die transformative Psychotherapie hat eine kurzfristige und tiefgreifende Veränderung des Bewusstseinszustandes mittels einer psychoaktiven Substanz zum Ziel, die eine ganz individuelle Neuorientierung des Bewusstseins ermöglicht. Während die substitutionsbasierte Therapie primär Symptome lindert, wirkt die transformationsbasierte Therapie direkter auf ursächliche Prozesse und Dynamiken ein. Allerdings ist nicht jeder Pa-tient für eine psychedelische Erfahrung bereit. Ob eine substitutionsbasierte oder transformative Behandlung zielführender ist, muss im Rahmen der individuellen Therapieplanung im Sinne einer sorgfältigen Nutzen-Risiko-Analyse erwogen werden.

Sind die Signale aus dem Gehirn wirklich informativ genug, um den menschlichen Geist zu entschlüsseln? Foto: Fotolia

Ist eine so klare Trennung zwischen Substitutionstherapie und der geistigen Transformation überhaupt möglich? Depressive Patienten besitzen eine geringere Nervendichte in bestimmten Hirnregionen. Demgegenüber stehen zum Beispiel Ketamin und Ayahuasca, die bekanntlich die Neurogenese ankurbeln. Solche Substanzen könnten also therapeutisch wirken, indem sie sowohl das Defizit an neuronalen Schaltkreisen substituieren als auch das Bewusstsein transformieren.
In der Geschichte der psychiatrischen Forschung lösen sich über die Jahrzehnte hinweg biologische und psychologische Krankheitsmodelle paradigmatisch ab. Diese Pendelbewegung spiegelt auch die Komplexität des Problems wider, das man zu lösen versucht, nämlich die Schnittstelle zwischen […]

Interview Christoph Benner