Titanische Illusionen

Burjatischer Schamane. Foto: Arkadi Zarubin

Auszug aus dem Heft

Bolo, die Schwester eines Schamanen, führte unsere Gruppe von Heilkundigen durch die schier endlose Grassteppe, in der Nomaden ihren Herden folgen, und durch die wilden Berge der Nordmongolei. Auch durch arg verwüstete Landschaften kamen wir, in denen internationale Bergbaukonzerne Mineralien und seltene Erden suchen, welche die Industrienationen für Elektromobilität und Windräder benötigen; wir sahen große Flächen des fragilen Steppenbodens, der von ausländischen Agrarkonzernen umgepflügt wurde, um Rohstoffe für den globalen Markt zu gewinnen. Irgendwann fragte mich Bolo: «Warum haben die zerstörerischen Kräfte so viel Macht, wenn doch die Schamanen Zugang zu den Geistern und Göttern, zu Himmel und Erde haben? Kannst du mir das erklären?»
Sie stellte mir diese Frage mehrmals. Auch ich habe sie mir öfters gestellt und nach einer Antwort gesucht. Mir fielen lediglich die Worte aus dem altindischen Satapatha-Brāhmana ein: Die Himmlischen sprachen die ganze Wahrheit, die Dämonen aber die ganze Unwahrheit, da sie nur ihren Vorteil suchten. Die Himmlischen wurden scheinbar geringer und ärmer. Die Dämonen dagegen, die beständig die Unwahrheit sprachen, glänzten wie Salzböden äußerlich, scheinbar wurden sie reich.

Der Astronaut Buzz Aldrin auf dem Mond. Foto: NASA

Das kam mir in den Sinn, aber ich sagte es nicht; ich wusste nicht, ob das passen würde. Mit alltäglicher Logik lässt sich die Frage, die Bolo mir stellte, nicht beantworten. Wenn man gewahrt, mit welcher Wucht die uralt überlieferten Lebensweisen der Menschen und die Lebensräume von Pflanzen und Tieren hinweggefegt werden, dann muss man tiefer schauen, so tief wie die alten Weisen, die ihre meditative Schau nur in Form von mythologischen Bildern ihren Mitmenschen vermitteln konnten. Ernst Jünger, ein guter Freund Albert Hofmanns, spricht vom Ansturm der Titanen, von jenen Söhnen des Chaos und Feinden der Götter, die einst von den Himmlischen in Ketten gelegt und in die Erdentiefen gebannt wurden, damit Frieden und Eintracht herrsche. In einem Zeitalter jedoch, in dem Tugend und Güte schwinden, da rütteln die Titanen an ihren Ketten und brechen aus dem dunklen Abgrund hervor: Metalle, die im Schoß der Erde Millionen von Jahren schlummerten, rasen nun als Flugmaschinen durch die Lüfte und als Kraftfahrzeuge über schwarze Asphaltbahnen und vernichten dabei die organisch gewachsene Natur und die Haut der Erde. Ihr Treibstoff, das schwarze Blut der Erde, das Öl, verpestet Luft und Wasser. Ihre geballten Energien, Elektrizität und Atomkraft, bahnen Schneisen der Zerstörung. Diese titanischen Energien sind etwas anderes als natürlicher Wind, Wasser oder Sonnenschein; sie sind nicht Teil der für uns unmittelbar wahrnehmbaren, sinnlichen Phänomene. Sie sind auch nicht übersinnlich, sondern «untersinnlich». Sie gehören, wie die Germanen es gesagt hätten, nicht zu Midgard, sondern brechen herein von jenseits des Ringes des Lebens, aus Utgard, wo die Thursen («Riesen »), die Feinde der Götter, hausen.

Professoren verkünden, die virtuelle Welt des Cyberspace sei die wahre spirituelle Dimension.

Wie war es überhaupt möglich, dass die Titanen/Thursen sich von ihren Fesseln befreien und Midgard stürmen konnten? Zum einen, weil sie äußerst klug und listig sind. Sie flüstern den schwachen, ängstlichen, tugendlosen Möchtegern- Zauberern zu: «Befreit uns, öffnet uns das Tor, und wir werden euch Macht, Reichtum und Respekt geben, den ihr begehrt. Wir flößen euch die Inspirationen ein, so dass ihr in euren Laboren Maschinen und Geräte konstruieren könnt, in denen wir uns verkörpern können.»
Sogar «Spiritualität» versprechen sie den Menschen, die ihre Verbindung zum göttlichen Urgrund verloren haben. Gut dotierte Professoren verkünden, die virtuelle elektronische Welt des Cyberspace sei die wahre spirituelle Dimension. PC und Internet seien das Tor zu paradiesischen Welten, die den Körper transzendieren und in eine nicht-körperliche Wirklichkeit führen, in ein neues Universum, in dem Alter, Klasse, Gender und Nationalität keine Rolle mehr spielen. Unser nach Informationen aller Art hungriges Gehirn – das nichts anderes ist als ein Biocomputer – kann in den Bildschirm eintauchen und seinen intellektuellen Hunger stillen, Cyberspiele spielen, ungehindert mit anderen im global vernetzen Cyberdorf kommunizieren und dann wieder auftauchen in die […]

Wolf-Dieter Storl