Sergius Golowin wurde 1930 in Prag geboren. Er entstammte väterlicherseits der russischen Fürstenfanilie Golowin-Chowrin – die über die Jahrhunderte viele Politiker, Künstler und Gelehrte hervorbrachte – und mütterlicherseits der Schweizer Patrizierfamilie von Haller. Nach langjähriger Tätigkeit als Bibliothekar in Bern und Burgdorf vertrat Golowin zehn Jahre lang im Berner Parlament als Abgeordneter eine frühe Vorläuferpartei der Grünen. Hier setzte er sich für die Rechte von Fahrenden ein. 20 Jahre lang beschattete der Schweizer Staatsschutz ihn mit großem Personalaufwand. Als er nach Erhalt der Akten in einem Datenblatt las, dass er als der größte Nonkonformist der Schweiz eingestuft worden war, freute er sich wie ein Schneekönig. Lange Jahre sammelte Golowin Mythen, Märchen, Sagen, Überlieferungen und Bräuche seiner Schweizer Heimat. Es gibt von ihm viele Publikationen zu Volkskunde, Altem Wissen, Volks- und Ethnobotanik, Schamanismus sowie zu Mythen, Symbolen, Traumdeute- und Wahrsagepraktiken. Vor 10 Jahren, am 17. Juli 2006, starb er im Alter von 76 Jahren in Bern.
Volkskunde des magischen Untergrunds
1971 arbeitete ich als Herausgeber einer «Bibliothek der Welträtsel». Ich suchte damals nach Autoren. Die Sparte «Magie/Zauberei» war noch unbesetzt. Deswegen zog ich Erkundigungen bei meinem Studienkollegen Mark Münzel ein. Mark (später Inhaber des Lehrstuhls für Ethnologie in Marburg) beschied mir: Wenn ich etwas wirklich Tiefes über Zauberei wissen möchte, dann müsste ich mich an den Schweizer Autor Sergius Golowin wenden. Ich schrieb Sergius an, und er schlug ein Treffen vor. Ich fuhr mit Freunden nach Interlaken, dem Wohnort von Sergius. Wir trafen ihn in einem Kaffeehaus. Er war mitten in einer Diskussion und wir hatten gleich einen guten Kontakt mit ihm. Was er erzählte, imponierte uns sehr: Zauberei und Magie hätten sehr viel mit der Einnahme bestimmter Substanzen als Auslöser von magischen Vorgängen zu tun. Er gab uns einen kleinen Abriss des Gebrauchs von Hexenpflanzen und Zauberpilzen über die Jahrtausende. Er hatte selbst viel mit solchen Pflanzen und Pilzen experimentiert und über ihre Wirkung sorgfältig in alten Schriften recherchiert. Sein Wissen hatte er in einem Manuskript verarbeitet. 1973 erschien sein Text unter dem Titel Die Magie der verbotenen Märchen: Von Hexendrogen und Feenkräutern im Hamburger Merlin Verlag.
«Spielen mit allen Sprachen und Künsten, das Vermischen von Alltag und Geheimnis, Wirklichkeit und Märchen-Phantastik erscheint mir nicht (…) wie ein verachtenswürdiges Trugwerk, sondern als ein Versuch, dem menschlichem Wesen, der ganzen Gesellschaft die schöpferische Vielseitigkeit wiederzuschenken.» Sergius Golowin, 1961
In seinem Buch beschrieb Sergius eine Volkskunde des magischen Untergrunds. Rübezahl, Rumpelstilzchen, Rapunzel, Frau Holle, der Schwarze Mann, Feen, Hexen, Gnome und Zwerge; sie alle legen in seiner Analyse ihre Tarnkappen und entstellenden Verkleidungen ab und zeigen sich als eingeweihte Boten der Wissenschaften vom menschlichen Unterbewusstsein. Unter der märchenhaften Oberfläche werden die geheimen Lehren der Druiden und das magische Wissen der weisen Frauen transparent, die zuvor in der symbolischen Sprache von Mythen, Märchen und Sagen verschlüsselt waren. Die Fähigkeit zur kosmischen Schau, die Möglichkeit, dem menschlichen Geist neue «Realitäten» mit dem Konsum von psychoaktiven Pflanzen und Pilzen zu erschließen, sind nicht erst Novitäten des Drogenbooms, sondern, wie Golowin in seiner Studie zeigt, bereits seit den Tagen des Höhlenmenschen uraltes, wenn auch immer geheim gehaltenes Wissen. Golowins Buch ist tatsächlich «ein europäisch-keltisches Gegenstück zu den Lehren des indianischen Schamanen Don Juan», wie es der Bewusstseinsforscher Timothy Leary formulierte.
Sergius wollte das verlorene Wissen und die Lehren über die uns umgebende Natur ein Stück weit wiedergewinnen; ein Wissen aus einer Zeit, als für die Menschen das Gefühl lebendig war, dass Tiere, Pflanzen, Steine und Sterne mit uns verwandt seien. Die Zaubermärchen erzählen noch davon, dass Elfen, Feen, Kobolde und Wasserfrauen mit den Menschen kommuniziert haben. Und wer es wagte, mit aller Vorsicht die Feenkräuter und Zauberpilze aus dem Korb der weisen Frauen zu kosten, dem öffnete sich für eine kleine Weile das innere Gesicht: Er bekam Märchenaugen verliehen.
Die Pilze sagten: «Diesen Kuchen esse ich nicht!»
In dem Arzt, Magier, Alchimisten und Naturphilosophen Paracelsus (1493–1541), der aus Einsiedeln stammte, sah Sergius eine Schlüsselfigur, dem nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch die Dichter und Künstler der Romantik und auch noch unserer Zeit sehr viele Anregungen verdanken. Paracelsus gewann seine Ansichten bewusst aus einer mystischen Weltschau, zu der auch seine Reisen in die Welt der Elementargeister gehörten. Die ganze Umwelt war für ihn von geheimnisvollen Lebenskräften erfüllt. Sein Arkanum und Allheilmittel, das Laudanum, das er anwendete, «wo es zum Tod reichen will», enthielt mit Opium und Bilsenkraut sehr wirksame psychoaktive Substanzen.
Sergius vermutete, Paracelsus könnte das Rezept für sein Wundermittel auf einer Reise in islamische Länder bei einem einheimischen Kräuterdoktor kennengelernt haben. Dass Paracelsus samt seinem Elixier der Unsterblichkeit über die Jahrhunderte selbst zu einer Gestalt des Volksmärchens wurde und so ganz mit der unsterblichen Figur des weisen Heilgottes in den alten Mythen verschmolz, faszinierte Sergius. Passgenau zum 500. Geburtstag des großen Schweizer Naturheilkundigen erschien sein Buch «Paracelsus: Mediziner – Heiler – Philosoph» (München 1993). Erik Golowin schreibt in seiner Biographie über seinen Vater: «Auch wenn es andere Autoren oder Denker sind, die etwas mitteilen, so hören wir immer wieder ihn, der durch sie spricht. Wenn man den verschiedenen Inhalten seiner Bücher nachgeht, dann findet man die Prozesse seiner inneren Entwicklung; wenn man sich mit seinen Erzählungen über die Kultur der eurasischen Stämme oder über die europäische Esoterik beschäftigt, dann findet man seine magische Wirklichkeit. So wie er vielfach in seinen Büchern unsichtbar hinter den handelnden Personen auftauchte, an ihrer Stelle sprach und so sein eigenes dichterisches Kaleidoskop der Realität präsentierte.»
Ich fand in Sergius einen Freund, der imstande war, auf vielen Feldern der Phantasie zu reisen. Bücher waren für ihn «fliegende Teppiche». Aber für Exkursionen in die Natur war er stets auch Feuer und Flamme. Lange bevor der Begriff Kultplatz Mode wurde, führte er uns nimmermüde zu erhaltenswerten Naturdenkmälern, heiligen Quellen und Mooren, alten Bäumen, geschichtsträchtigen Höhlen, Kapellen und Gruften, um den Geist des Ortes zu erspüren.
Schnecken, nackte Frauen und Tortenstücke
Sergius mochte Tiere sehr. Mit dem Essen von Fleisch tierischer Mitgeschöpfe tat er sich daher schwer. Als Sergius einmal auf dem Weg zu einer Talkshow mit Udo Lindenberg am Flughafen Frankfurt einen Aufenthalt hatte, besuchte ich mit ihm die nahegelegene Frankfurter Traditionsgaststätte «Unterschweinsstiege». Die Bedienung machte uns darauf aufmerksam, dass es frisches Wild gebe. «Was haben Sie denn anzubieten? »,fragte Sergius. «Es gibt Hase.» «Hase? Nein, Hasen sind so nett. Was haben Sie noch?» «Ja, Wildschwein.» «Nein, das sind auch so nette Tiere.» «Wie wäre es denn mit Reh?» «Nein, nein, das geht schon gar nicht. Haben Sie denn nicht noch anderes Wild?» Ziemlich genervt sagte die Kellnerin, «Wir hätten noch Schnecken.» «Ja», sagte Sergius, «die nehme ich, die mag ich nicht.» Sergius war eine auffallende Erscheinung. Seine Löwenmähne, verbunden mit einem mephistophelischen Bart, die Art, wie er sich bewegte, seine legendäre Lederjacke und der Gürtel, der verziert war mit goldenen Symbolen des Tierkreises, machten ihn zu etwas Besonderem. Sein Lachen, sein unwiderstehlicher Humor, seine ganze Art waren mitreißend. Manchmal schon etwas zu sehr: Es schellte einmal am Haus in Allmendingen. Eine junge Dame, die ihn eine Woche vorher bei einem Vortrag erlebt hatte, stürzte herein, riss sich zur Verblüffung der Familie alle Kleider vom Leib und warf sich auf den überraschten Sergius. Dem fiel immerhin ein zu fragen: «Ja, ist es denn so warm hier drin?»
Schlagfertigkeit bewies er auch bei einem Aufenthalt in Wien. Wir hatten ein Pilzelixier zu uns genommen und ließen die Sehenswürdigkeiten der Stadt auf uns wirken: Stephansdom, Museen, die Hofburg und den Prater. Den Prater – das Reich der Geister, Zwerge und Schaubuden – besuchen zu können, genoss Sergius besonders. Auf der Geisterbahn, dem «Aufschlagsort für Adrenalin-Junkies», fuhren wir denn auch gleich mehrfach. Diese Geisterbahn, so informierten wir uns in einem Gespräch mit dem Kartenverkäufer, war ein Nachbau des 1933 vom Praterkönig Friedrich Holzdorfer errichteten «Geisterschlosses», das im Krieg den Brandbomben zum Opfer gefallen war. Ich äußerte den Wunsch, danach im weltberühmten Cafe Sacher die ebenso berühmte Sachertorte zu probieren. Lange rührten wir traumverloren etwas Sahne in unseren Tee und starrten die schön verzierten Tortenstücke an, die der Kellner vor uns gestellt hatte. Ihre schiere Mächtigkeit machte uns sprachlos. Die Pilze im Leib sagten ohnehin: «Diesen Kuchen esse ich nicht!» Das Cafe war gespenstisch leer. Nach all dem Umherlaufen kamen wir zur Ruhe – und die Pilze nutzten die Gelegenheit, um uns mit Bildern zu überschwemmen.
Sergius rief schließlich den Kellner, um zu zahlen. «Stimmt etwas mit der Torte nicht?» fragte dieser besorgt. «Nein, nein», sagte Sergius. «Wir sind Kurgäste und auf einer ärztlich verordneten Diät. Wir dürfen Kuchen im Moment nicht essen. Wir wollten aber die einzigartige Gelegenheit nutzen, diese wunderbare Torte wenigstens zu sehen und zu riechen. Fast hätten wir dem köstlichen Duft nach Marillen und Schokolade nicht widerstehen können.» Solchermaßen informiert und mit einem guten Trinkgeld versehen, räumte der Mann die Kalorienbomben gern wieder ab.
Angewandte Drogenkunde
Sergius machte immer wieder Versuche mit psychoaktiven Substanzen, um sich ihrer Wirkungen zu versichern. Gern lud er dazu auch Gäste ein. Eines Tages rief er uns in Frankfurt an; er plane, ein rituelles Wodka-Rauschtrinken zu veranstalten, das eine Nacht über stattfinden solle. Wir sollten am Wochenende dazukommen. Wir waren etwas überrascht, denn Sergius trank selten Alkohol. Und gleich ein Wodka-Gelage die ganze Nacht durch?
Wir trafen uns gegen acht Uhr abends in Bern im Stadtpalais eines Verwandten. Um halb neun kredenzte die Hausfrau jeder männlichen Versuchsperson ein gut gefülltes Glas mit Wodka. Danach brachte eine Küchenfee ein Tablett mit Häppchen, die mit Räucherlachs, Kaviar oder fettem Schweinefleisch belegt waren. Die Häppchen, erklärte Sergius, würden den Alkohol neutralisieren. Der Geist des Wodkas aber werde bewahrt. Geplant war der weitere Konsum im Abstand von je einer halben Stunde.
Mit von der Partie war auch Alfred «Baschi» Bangerter (1936–2010), ein in Bern lebender jenischer Liedermacher und «Teufelsgeiger», der zur vorgerückten Stunde Zigeunerlieder spielen wollte. Beim vierten Ausschenken merkte er, dass sein Wodka mit Wasser versetzt war. Die Hausherrin hatte den Ausführungen von Sergius nicht ganz getraut und befürchtete, dass Baschi mit zunehmender Trunkenheit ausflippen könnte. Ausflippen – genau das passierte jetzt. Baschi wütete erst in Worten, dann mit Taten gegen die Gastgeberfamilie. Einen wertvollen alten runden Holztisch kippte er um, riss das Tischbein heraus und schlug auf alles ein, was ihm auf dem Weg zur Haustür in die Quere kam. Die Wodka-Gruppe blieb beim verabredeten Set und Setting. Wir gerieten mehr und mehr in eine Hochstimmung. Am Morgen beim gemeinsamen Frühstück tauschten wir unsere Eindrücke aus. Niemand fühlte sich betrunken oder müde. Allen gemeinsam war das Gefühl einer großen Klarheit und Wachheit. Einer der Teilnehmer verglich unsere Bewusstseinslage mit dem Zustand nach dem Konsum mehrerer Joints. Sergius hatte recht behalten. Richtig genutzt, besitzt auch Wodka ein psychoaktives Potential.
Ein Quell fruchtbarer Ideen
Das große Anwesen in Allmendingen mit dem außergewöhnlichen Haus im Bauhausstil, der 1934 erbauten Villa Caldwell, das Sergius nach der Zeit in Interlaken 1982 erwarb, wurde schnell zur Durchgangsstation für ganz viele Besucher. Man traf bei ihm die interessantesten Menschen: Psycho-Gurus, Medien, Künstler, Schriftsteller, Diplomaten, Prinzessinnen. Für alle hatte Sergius ein offenes Ohr und guten Rat. Er war ein Quell fruchtbarer Einfälle und außerordentlich großzügig darin, Ideen an andere weiterzugeben, andere anzuregen, sie selber zu werden und etwas zu machen, was sie sich vorher nicht zutrauten.
Ich bin über Jahrzehnte öfters dazu gestoßen, wenn Sergius einen Vortrag gehalten hat. Er versuchte immer erst einmal, dem Publikum zuzuhören, die Stimmung zu erspüren, herauszufinden, wo das Bedürfnis ist, und setzte dann dort an. Er sprach den Menschen aus dem Herzen. Viele erlebten ihn als eine Offenbarung für sich. Ich erinnere mich noch an einen Vortrag in Thüringen, wo eine alte Dame in Tränen ausbrach, später zu ihm ging und sagte, er habe ihr ein Stück ihrer Kindheit zurückgegeben durch das, was er erzählt hatte. Er verstand es meisterhaft, unbewusste Inhalte aufzurufen. Er besaß die Fähigkeit, Inhalte weniger über Rationales als über Geschichten, Anekdoten und Sprachbilder den Zuhörern nahezubringen. Sein Credo: «Die überragende Art zu dichten ist das Erzählen.» Seine Sätze hatten oft keinen Anfang, kein Ende, keine Mitte. Es waren eher die Beschwörungsformeln eines Magiers.
Sergius interessierte sich denn auch sehr für die alten mit Sigillen, Runen und Charakteren ausgeschmückten Zauberbücher und faustischen Höllenzwänge, die bei den Menschen auf dem Land auch im 20. Jahrhundert noch im Gebrauch waren. In seinen Schriften weist er darauf hin, dass die von Staat und Kirche geschmähten und verfolgten Praktiker der Schwarzen Künste (für Sergius «nigromantische Poeten») durch ihre für Verstand und Vernunft sinnlos erscheinenden, lautmagischen und hypnotischen Zaubergedichte, sowie mit seltsamen Zeremonien und intensiven Pflanzenräucherungen bei ihren Kunden sehr wohl mystische Stimmungen zu erzeugen vermochten.
«… die alte Magie als Mittel der Erfassung des eigenen Wesens.»
In seiner kleinen Schrift Dada im Mittelalter – Notizen zu einer Antiliteratur (Berlin 1981) schreibt er auf Seite 38: «Das Zauberbuch Claviculae Salomonis weiß: ‹Die wahrhafte Geisterkunst hat ihren Grund darin, dass wir zuerst die Geister absonderlich in Uns, und hernach die Geister, die in allen Elementen sind, in ihrer rechten Geisternatur erkennen.› So von ihren Vertretern verstanden, ersteht heute die alte Magie zu einem bewunderungswürdigen Mittel der Erfassung des eigenen Wesens, des Unter- oder Urbewusstseins in uns und damit des Weltganzen: Die okkulte Philosophie der großen Fahrenden wie Paracelsus, Agrippa von Nettesheim, Faust, die Tarot-Jahrmarkt-Gaukler usw. erscheint uns damit nicht als primitive Vorstufe der modernen Seelenforschung, sondern als ein bewunderungswürdiger Vorstoß des menschlichen Bewusstseins zu seinen erhabensten Zielen; als ein mächtiger Versuch, dessen Bedeutung und Erfahrungen leider lange genug in Vergessenheit gerieten.»
BUCHTIPP Erik Golowin: Sergius Golowin: Aufbruch ins psychedelische Zeitalter. Synergia 2015 (siehe Seite 105)