Der digitale Entzug

Der internetverwöhnte Mensch ist rund um die Uhr erreichbar. Er kann pausenlos surfen und im globalen digitalen Gedächtnis alles Mögliche suchen. Für fast jedes Problem findet sich eine hilfreiche App.

Wir kaufen uns ein Briefchen mit den Zugangsdaten.

Doch wie ergeht es ihm in einer Stadt, die sich noch im digitalen Mittelalter befindet? Havanna, im Jahre 2016. Zuerst der Schock – das Datenpaket, das mir 1 Gigabyte Downloads für 69 Schweizer Franken versprach, funktioniert nicht. Kein Zugang in den ersten zwei Tagen! Es sind befreite Tage, doch etwas fehlt, ich fühle mich sozusagen nackt, digital entwurzelt. Dann ein Lichtblick: Von meinem «Stoffanbieter» in der Schweiz kann ich ein anderes Datenpaket beziehen, 200 Megabyte für stolze 99 Franken! Und siehe da, es funktioniert. Gleichzeitig der Gedanke: Es wäre auch schön, wenn es so geblieben wäre. Was, wenn ich nun tatsächlich vier Wochen vom weltweiten Netz abgeschnitten gewesen wäre und den kalten Entzug versucht hätte? Es gab einmal ein Leben vor dem Handy, vor der allumfassenden Erreichbarkeit. Man hatte damals mehr Zeit für sich und für andere. Doch die digitalen Hilfsmittel gaukeln uns vor, dass wir damit Zeit sparen. Also los: Surfen, E-Mails runterladen, dies und das im Netz angucken. Einen Tag später sind bereits über 60 Megabyte weg – also rund 30 Franken, Telefongebühren, SMS und MMS nicht eingerechnet. Vier Wochen Kuba, das wird teuer.

Smartdrugs? Nein, Smartphones!

Wir haben schon in der Schweiz Berichte über Hotspots und illegale WiFi-Karten-Dealer gelesen. Lange suchen müssen wir nicht: Erste Dealer sprechen uns an (nicht auf Drogen, nein, auf WiFi-Karten); einzelne bieten sogar die ganze Palette gängiger Substanzen an: Charly, Speed, Ganja, inklusive Frauen. Für rund 3 CUC (ca. 3 Franken) bekommt man einen «Schuss», einen Zugang für eine Stunde. Die Fixerstuben, nein, Surfplätze erkennt man leicht: eine Menschenmenge in einem Park, alle versunken in ihre Tablets … Tabletten … Smartdrugs? Nein, Smartphones! Es erinnert an Bilder aus den achtziger Jahren vom Platzspitz in Zürich. Wir kaufen uns ein ‚Briefchen’ mit den Zugangsdaten, die rettende Erlösung naht. Bald hocken wir wie die anderen da, vergessen unser soziales Umfeld, chatten stattdessen mit Freunden, tummeln uns in Twitter und Facebook und checken E-Mails. Wir gehören wieder dazu, unterstützen das weltweite Kartell der Drogendealer – pardon, der globalen Kommunikationsgiganten. Die Schöne Neue Welt kann weiter wachsen: Kuba holt auf, auch diese letzte Bastion wird bald auf die globale Gleichschaltung eingestimmt sein.

Digitale Kompetenz

In den folgenden Tagen ändere ich mein digitales Konsumverhalten, betreibe Schadensminderung und konsumiere den Stoff, aus dem die digitalen Träume sind, nur noch im kontrollierten öffentlichen Raum. Den restlichen sauberen Stoff, den mir mein Schweizer Kommunikationsdealer für teures Geld verkauft hat, nutze ich nur noch für Notfälle, wenn der Entzug zu stark wird und keine WiFi-Hotspot-Fixerstube in der Nähe ist. So kommen mir auch die Leute hier in Kuba näher. Ich habe mehr Zeit für sie, für mich, zum Schreiben – und zum Nachdenken darüber, wie wir einen sinnvollen Umgang mit der digitalen Welt erlernen könnten. Man könnte ein Schulfach analog zur längst fälligen Rauschkunde entwickeln, um die digitale Kompetenz zu lernen, ebenso, wie auch die Drogenmündigkeit zu erlernen wäre. Wie psychoaktive Substanzen können Apps, Smartphones, Laptops & Co. hilfreich sein und Spaß machen – aber eben auch süchtiges Verhalten fördern. Vor nicht allzu langer Zeit gab es sie noch gar nicht. Die Welt funktionierte trotzdem, und bestimmt nicht schlechter.

Roger Liggenstorfer, Herausgeber