Überall – bloß nicht Hier & Jetzt

Bewusstseinserweiterung durch Technik? Ein kritischer Blick offenbart: Leider ist das Gegenteil der Fall.

Fluch oder Segen? Das Smartphone ist heute allgegenwärtig. Foto: Ververidis Vassilis / Shutterstock

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Wer Wert auf gesunde Ernährung legt, sollte nicht nur darüber nachdenken, was er isst. Denn die Entscheidung darüber, was nur selten oder vielleicht gar nicht auf dem Speisezettel stehen sollte, ist genauso wichtig. Das Gleiche gilt für alle, die langfristige, alltagskompatible Bewusstseinserweiterung betreiben möchten, Raumgestaltung fürs Oberstübchen. Auch sie sollten sich fragen, was dafür geeignet und was eher kontraproduktiv ist. In diesem Sinne geht es im Folgenden ausnahmsweise nicht um Bewusstseinserweiterung, sondern gewissermaßen um Bewusstseinsverengung: um die Allgegenwart von Smartphones und die durch sie repräsentierte Allgegenwart von Sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram. Wie fortgeschritten dieses Phänomen bereits ist, das brachte die Kolumne von Roger Liggenstorfer in der letzten Ausgabe trefflich-humorvoll auf den Punkt: Ein Großteil der Bevölkerung erfüllt mittlerweile die klassischen Kriterien einer Sucht. Für einen bewussten Lebensstil im Hier & Jetzt, dem wir uns hier im Heft ja immer wieder widmen, ist dies eine problematische Entwicklung.

Es fehlt die Fähigkeit, Begeisterung aus dem Hier & Jetzt zu schöpfen.

Wir treffen auf der Straße einen Nachbarn, den wir länger nicht gesehen haben. Mit leuchtenden Augen erzählt er uns, dass seine Katze Junge bekommen hat. Das haben wir natürlich schon vor zwei Wochen durch seine begeisterten Postings auf Facebook erfahren. «Alle sind schwarz, nur ein Kätzchen ist schneeweiß!» Auch das ist uns dank der Videos und Fotos, welche die Runde machten, bereits bekannt. Und so geht es weiter. Es ist zwar schön, ihn wieder mal zu treffen, aber das Gespräch wirkt irgendwie gestellt, denn wir tauschen nicht wirklich Neuigkeiten aus. Es fehlt die Überraschung – und mit ihr unsere Fähigkeit, Begeisterung aus dem Hier & Jetzt zu schöpfen.
«Happiness is only real when shared»: Nur geteiltes Glück ist echtes Glück. Bis vor ein paar Jahren war dies eine immer wieder zitierenswerte Moral aus dem Bestseller Into The Wild über das Leben und den Tod eines jungen Aussteigers. Denn so schön es auch sein kann, alleine inmitten der Natur zu sein – wir sind soziale Wesen, und es ist die Interaktion mit anderen, die unser Leben wirklich erfüllt. Was uns zurück zum Katzennachwuchs unseres Nachbarn bringt: Was ist denn falsch daran, dass er sein felines Glück auf Facebook und Instagram teilt? Ist es nicht genau jene Interaktion mit anderen, die unser Leben lebenswert macht?
Im Grunde ja, aber: Echte zwischenmenschliche Kommunikation mit all ihren nonverbalen Faktoren, wie sie etwa beim zufälligen Treffen auf der Straße stattfindet, ist etwas ganz anderes als das Austauschen von Fotos und Textnachrichten übers Internet. Im echten Leben können wir nämlich nur bedingt kontrollieren, was wir sagen oder tun. Dienste wie Facebook, WhatsApp oder Instagram ermöglichen es uns dagegen, sorgfältige Manipulation zu betreiben: Wir legen jedes Wort auf die Goldwaage und veröffentlichen nur Fotos und Videos, die uns so aussehen lassen, wie wir es gerne hätten. Durch selektive Informationsübermittlung betreiben wir mehr oder weniger raffinierte PR, vermarkten wir uns wie ein Produkt.

Das Zepter des modernen Narzissten ist der Selfie-Stick.

Ob Kochen, Fahrradtour mit Freunden oder Yoga: Man tut immer weniger Dinge einfach nur deswegen, weil sie sich gut und richtig anfühlen. Die Hintergedanken ans Publikum und seine vermeintliche Anerkennung sind allgegenwärtig. Das geht so weit, dass Erlebnisse inszeniert werden, nur um sie in die sozialen Medien einzuspeisen. Wir sind zu einer Gesellschaft von Wichtigtuern und Posern geworden. Intellektuell etwas höher oszillierende Zeitgenossen nennen als Grund für die eifrige Echtzeit-Dokumentation ihres Lebens Motive wie «andere inspirieren». Aber wer schenkt anderen eigentlich noch Aufmerksamkeit, wenn alle damit beschäftigt sind, sich selbst darzustellen? Das Zepter des modernen Narzissten ist der Selfie-Stick – ein groteskes Instrument, das bezeichnenderweise einen weiteren Aspekt der selektiven Abgrenzung repräsentiert: Es macht die spontane Interaktion mit unserer Umwelt unnötig, genauso wie die sozialen Medien.

Das Handy als Fenster zur Umwelt. Foto: Pixabay

Wer sich zu jeder Zeit und an jedem Ort mit einer Personengruppe seiner Wahl verbinden kann, entzieht sich der Herausforderung, welche die Echtzeit-Interaktion mit der unmittelbaren Umgebung bedeutet. Sozial- oder Sprachkompetenz werden dank Smartphone unwichtig. Die Fähigkeit zur Integration wird unwichtig. Und zwar sowohl im Mikro-Kontext eines Zugabteils als auch im Makro-Kontext der Gesamtgesellschaft. Das Ergebnis ist eine durch Vernetzung fragmentierte Gemeinschaft: Jeder ist für sich, verbunden nur mit den Menschen, die ihn interessieren und ihm Nutzen bringen – wohlgemerkt aber nur durch vergleichsweise primitive Kommunikationskanäle wie etwa Facebook, WhatsApp oder Twitter.

Es ist wichtig, uns Freiräume zurückzuerobern.

Die Dosis macht das Gift. Grundsätzlich sind das Internet und soziale Medien nämlich eine großartige Erfindung. Sie ermöglichen es uns, in Kontakt mit Freunden und Familie zu bleiben, eröffnen Zugang zu ungefilterten Informationen, machen es möglich, ortsunabhängig zu arbeiten und Erfahrungen auszutauschen. Die Verbreitung des Internets ging zunächst mit aussichtsreichen Demokratisierungsversprechungen einher, doch irgendwann nahm sie eine fragwürdige Wende. In jenem Moment, in dem die Menschen anfingen, es in Form kompakter Apparate in jeden nur erdenklichen Winkel unseres Lebens zu tragen, wurde aus einer nützlichen, geradezu bewusstseinserweiternden Technologie etwas, das uns bei der Entwicklung eines achtsamen Lebensstils im Hier & Jetzt oft mehr im Wege steht als hilft. Deshalb ist es wichtig, uns Freiräume zurückzuerobern.
Oder, wie es der Schriftsteller Paulo Coelho in einem ganz anderen Zusammenhang und doch wunderbar treffend für die Geistes- und Körperhaltung übereifriger Smartphone-Nutzer ausdrückte: Um die unsichtbare Welt zu durchdringen, um die eigenen Kräfte zu entwickeln, musst du in der Gegenwart leben, im Hier und Jetzt. Um in der Gegenwart zu leben, musst du das «zweite Bewusstsein» kontrollieren. Und zum Horizont blicken.

PHONE OFF, PARTY ON!
An einigen Clubtüren kann man mittlerweile Slogans wie No mobiles on the dance floor, please. It kills the vibe and makes you look like a boring bastard oder Phone off, party on lesen. Eine sehr positive Entwicklung, die zum Standard werden sollte! Denn Clubs sind traditionell Freiräume, in denen wir uns im Hier & Jetzt der Tanzfläche verlieren und den Alltag mit seinen Konventionen hinter uns lassen können. Deshalb haben Smartphones hier nichts verloren. Auch vor dem Clubbesuch sollten wir uns wieder mehr Freiräume schaffen: Muss das Ding wirklich auf dem Tisch liegen, wenn wir mit Freunden beim Essen oder in der Kneipe sitzen? Auch hier sollten die zitierten Slogans zur Anwendung kommen und konsequent durchgesetzt werden. Verbringe jeden Tag ein bisschen Zeit allein, empfiehlt der Dalai Lama. Heutzutage könnte man wohl zusätzlich sagen: Verbringe jeden Tag mindestens eine Stunde ohne dein Smartphone.
Das Zitat von Coelho im englischen Original: In order to penetrate the invisible world and develop your powers, you have to live in the present, the here and now. In order to live in the present, you have to control your second mind. And look at the horizon.

Roberdo Raval