Walter Wegmüller: Moosrugger

Mischtechnik auf Leinwand, 120 x 150 cm, 1968

Moosrugger

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Moosrugger

Ein Vogelmensch fixiert uns frontal. Auf den ersten Blick. Bei näherer Betrachtung offenbaren sich im Detail konsequente Störungen der zentralsymmetrischen Komposition – und verborgene unerwartete Perspektiven: Das Wesen blickt zugleich mit drei weiteren Profilen nach rechts, links (erkenntlich an Mund und Nase) und auch nach unten. Wir erblicken ein wahrlich merkwürdiges Mischwesen mit Moos und Efeublättern auf Kopf und Schultern, das sich im Boden verkrallt, der von ockerfarbenen fleischigen Blüten besät ist.

In Schulterhöhe streben zwei Fische unter Flügeln kopfwärts fülligen weiblichen Brüsten zu. Seine rechte Brust sieht man seitlich, die linke frontal, wie ein Schneckengehäuse. Verfranste, eckige Gebilde verbergen seinen Hals und formen sich, hellhäutig wie Kopf, Brust und Krallen, zu Fingern und Händen, die sich den beiden oberen Ecken entgegenstrecken und – wiederum auf den zweiten Blick – diverse Fratzen, Augen und Köpfe enthüllen.

Seinem Scheitel entwachsen zwei Hörner (mit Gesichtern) und hinter den Schultern zeichnen sich rötliche Flügel mit aufwärts gerichteten detaillierten einzelnen Federn vor dem etwas helleren Hintergrund voller gerundeter Linien ab, die die obere Bildhälfte ebenso bis zum Rand füllen wie darunter die ockerfarbene «Blütenwiese».

Ein derartiges – aus Federn, Blättern, Flechten, Krallen, Flügeln und Hörnern zusammengesetztes – Wesen ist uns gänzlich fremd. Es spottet jeglicher Anatomie und selbst gewagten Bauplänen überkommener Fabelwesen aus dem Reich der Phantasie.

Moosrugger, der Titel und mutmaßlich auch der Name des Wesens, gibt Rätsel auf. Im berndeutschen Schweizer Dialekt ist Moosrugger ein Überbegriff für die Biel-Täuffelen-Ins-Bahn durch das Seeland. Doch das hilft nicht wirklich weiter. Die linguistische Spur zur Guggenmusik, der typisch schweizerischen Blasmusik regionaler Fasnachts-Gruppen, von denen sich manche Moosrugger nennen, schon eher.

Die Volkskunst, die Symbolsprache der Nomaden und vor allem sein ethnischer Hintergrund als Jenischer, das heißt als Zigeuner, der seinen kulturellen Wurzeln brutal als sogenannter Verdingbub entrissen wurde, beeinflusste maßgeblich die Kunst von Walter Wegmüller (geboren 1937 in Zürich). Mit seinen von Sergius Golowin herausgegeben Tarotkarten, die von 1968 –1974 entstanden, wurde der in Basel lebende Künstler, der unter anderem auch mit HR Giger zusammenarbeitete, über die Grenzen des psychedelischen Untergrunds hinaus bekannt.

Zum 80. Geburtstag ehrte ihn die Basler Galerie Brigitta Leupin im Februar 2017 mit einer Ausstellung.

Claudia Müller-Ebeling