Text: Christian Rätsch
Der sinnvolle Gebrauch von psychoaktiven Substanzen ist in unserer modernen westlichen Kultur aufgrund verschiedener historischer Verhältnisse (z.B. Christianisierung, Inquisition) verlorengegangen und/oder systematisch unterdrückt worden. Die heiligen Pflanzen unserer Ahnen sind heute vom Betäubungsmittelgesetz als »Betäubungsmittel ohne medizinischen Wert« verboten und werden als sogenannte »kulturfremde« Drogen betrachtet. »Kulturfremd« soll dabei wohl heißen, daß es keinen kulturell tradierten Gebrauch dieser Substanzen gibt. Aber hier irrt der Gesetzgeber. Unsere Gesellschaft, für die diese Gesetzgebung gilt, wird nicht von einer homogenen Kultur getragen, sondern zersplittert sich in viele selbständige kulturelle Gruppen, die gerne als »Subkulturen« beschrieben werden. Nun hat sich aber gerade in einigen dieser eigen ständigen kulturellen Untergruppen seit den späten fünfziger Jahren eine echte kulturelle Tradition entwickelt, in der die alten heiligen Pflanzen in modernen Ritualen verwendet werden. Besonders der Umgang mit entheogenen Pilzen hat eine eigene Tradition hervorgebracht, die sich heute zwar weltweit, aber hauptsächlich in Nordamerika und Mitteleuropa etabliert hat (Linder 1981, Thompson et al. 1985).
Die historischen Wurzeln dieser modernen Rituale lassen sich im wesentlichen auf die geistigen Väter der Hippies und die Schamanen der nord- und mesoamerikanischen Indianer zurückführen. Ich hatte in den letzten zehn Jahren mehrfach die Gelegenheit, an derartigen Ritualen teilzunehmen, sie kulturanthropologisch zu beleuchten und mit traditionellen psychedelischen Ritualen anderer Kulturen oder Völker zu vergleichen. Ich konnte auch viele Menschen zu ihren Pilzerfahrungen bei derartigen Ritualen und zu ihren Vorstellungen über die Natur der Pilze usw. befragen. Aus verständlichen Gründen kann ich keine Angaben über Orte, Zeiten und Personen machen.
Eine entheogene Kultur
Das Wort »entheogen« ist ein recht neues Kunstwort, das »Gott in sich hervorrufend« bedeutet und als Alternative zum Begriff Psychedelikum entwickelt wurde. Es sollte auf die Erfahrungsdimension bestimmter Substanzen hinweisen. Das Wort »entheogen« hat sich seither verbreitet und ist heute, besonders in der Fachliteratur weit gehend akzeptiert und etabliert.
Ich benutze den Begriff »entheogene Kultur« (oder Pilzkultur) als Bezeichnung für Menschen einer Gruppe, die Pilze oder andere Substanzen rituell einnehmen, um spirituelle oder mystische Erfahrungen zu machen.
Die entheogene Pilzkultur ist dezentralisiert, anarchisch bzw. partnerschaftlich und reicht weit über religiöse, kognitive und politische Grenzen hinaus. Sie gleicht dem Wachstumsverhalten der Pilze. Im Untergrund verbreitet sich das Wurzelgeflecht. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort treiben die Fruchtkörper aus, oft im Kreis (»Hexenring«), und verteilen ihre Sporen in alle Welt. Um in die Pilzkultur eingeweiht oder initiiert zu werden, muß man lediglich rituell, z.B. im Kreis Gleichgesinnter, Pilze essen und von »ihnen angenommen« werden. Die rituelle Kreiserfahrung wird von vielen Menschen als Einweihung in die Mysterien der Pilze erlebt (vgl. Linder 1981).
Entheogene Pilze in Mitteleuropa
Nachdem zahlreiche mexikanische Arten (Psilocybe spp.) gesammelt, beschrieben und chemisch analysiert werden konnten, erhielt der Schweizer Chemiker Albert Hofmann, der die Wirkstoffe Psilocybin und Psilocin in den mexikanischen Zauberpilzen entdeckt hatte, von einem Schweizer Almbewohner den Hinweis, daß es auch in den Alpen Pilze gäbe, die so wirken würden wie die mexikanischen. Er, der Almbewohner, hätte die Pilze öfter gegessen und kenne die Wirkungen sehr genau. Daraufhin erhielt Hofmann eine Probe der Pilze, die zu der Art Psilocybe semilanceata gehörten, und konnte in ihnen ebenfalls den Wirkstoff Psilocybin feststellen. Die Originalarbeit wurde in einer kleinen wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht (Hofmann et al. 1962). Dennoch verbreitete sich das Wissen um den einheimischen Zauberpilz sehr schnell. Der Spitzkegelige Kahlkopf (englisch ›Liberty Cap‹ oder ›Pixie Cap‹) oder Psilocybe semilanceata (fr.) quélet [1818] ist nicht nur in Europa und Amerika heimisch; er wird inzwischen weltweit (sogar in Australien) gefunden. Er gilt als der häufigste und am weitesten verbreitete Pilz der Gattung Psilocybe. In der Schweiz gibt es noch eine Form, bei der die Hüte wie »kleine Zwergenmützchen« aussehen. Er enthält z.T. hohe Konzentrationen an Psilocybin, etwas Psilocin und daneben Baeocystin. Der Kahlkopf wächst bevorzugt auf Wiesen mit alten Dungablagerungen. Er ist im Flachland von Norddeutschland genauso anzutreffen wie auf den Wiesen in den Mittelgebirgen als auch auf den Almen der Alpenländer. Im Wald wurde er bisher nicht gefunden. Er scheint also eine Art Kulturfolger des Menschen zu sein. Seine Fruchtkörper reifen bereits im Spätsommer und Frühherbst. Ab Ende Juli schwärmen die Pilzsammler aus, um die Kahlköpfe, liebevoll ›Psilos‹, ›Glückspilze‹, ›Halluzipilze‹, ›Pilzli‹ oder ›Schwammerl‹ genannt, zu ernten. Sie können bis Mitte Januar gesammelt wer den. Mir wurde von sehr vielen Pilzsammlern berichtet, daß schon das Sammeln ein Ritual ist. Oft beginnt das Sammeln mit einem Gebet an die Erdgöttin Gaia oder an eine ominöse Pilzgottheit; es werden auch Opfergaben, z.B. kleine Kristalle, am Rande der Wiese oder Alm als Dank an den Pilzgeist abgelegt. Die ersten zwei Pilze sollte man essen, danach würde man die richtige Art zielsicher erkennen und überall finden können. Einige Pilzsammler sagten mir, daß man die Pilze nur findet, wenn man »gut drauf« sei; Leute, die »schräg oder schlecht drauf seien«, können keine Pilze finden. Die Pilze können entweder frisch verspeist oder getrocknet gelagert werden. Gelegentlich werden die getrockneten Pilze pulverisiert und dann mit Fruchtsäften, Kakao oder Schokolade eingenommen. Die Dosierungsangaben liegen bei einer Handvoll frischer Pilze (ca. 10 – 20 g) oder 2–3 Gramm getrockneter Pilze.
In jüngster Zeit hat sich vor allem der Gebrauch des Psilocybe cyanescens Wakefield – nicht zu verwechseln mit dem Panaeolus cyanescens (= Copelandia cyanescens) – in Deutschland und der Schweiz eingebürgert. Dieser Pilz gehört ohnehin zur einheimischen Mykoflora Mitteleuropas und kann von »Glückspilzen« sogar im Wald gefunden werden.
Der Psilocybe cyanescens gedeiht am besten auf Rindenmulch. Daher läßt er sich auch gut im eigenen Garten kultivieren. Dazu benötigt man nur ein Stück vom Mycelium. Der Psilocybe cyanescens, der u.a. den Spitznamen »Oink« trägt, gilt in Kennerkreisen als besondere »Psychedelikatesse«. Gewöhnlich haben schon drei getrocknete Pilze (ca. 1 g) eine sehr heftige entheogene Wirkung!
In den siebziger Jahren wurde von pilzbegeisterten Tüftlern eine Methode zur heimischen Kultivierung von Stropharia cubensis Earle 1906 [= Psilocybe cubensis (Earle) Singer], »dem Pilz, der von den Sternen stammt«, entdeckt und erstmals auf Englisch im Jahr 1976 veröffentlicht (Oss & Oeric 1981). Dieses Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, mehrfach indiziert und hat bis heute eine Gesamtauflage von einer halben Million (die Schwarz drucke nicht mitgerechnet) erreicht. Viele Menschen haben diese Kultivierungsmethode erfolgreich angewandt. Die Zuchtmethoden werden ständig verbessert und für den Hausgebrauch vereinfacht. Es wurden sogar Methoden entdeckt, wie der Psilocybingehalt gesteigert werden kann. In den letzten Jahren sind auch die Arten Psilocybe cyanescens und Panaeolus subbalteatus Berk. & Br. erfolgreich in Heimlabors gezüchtet und rituell verspeist worden. Als wirksame Dosis des Stropharia cubensis werden 3–5 Gramm der getrockneten Pilze angegeben. Wobei je nach Bedarf des Genießers unterschiedliche Dosierungen für verschiedene Zwecke genommen werden. Diese reichten von einem kleinen Pilz zur milden Psychostimulation bis zum ›full blast‹ oder psychedelischen Durchbruch (Terence McKennas berühmtes ›heroisches‹ Rezept lautet: »Five gramm on an empty stomach in total silent darkness«). Meist werden die Zauberpilze frisch oder getrocknet verzehrt. Dabei haben sich bestimmte Formen des Genusses entwickelt. Zum Beispiel werden die Pilze in Honig eingetunkt oder pulverisiert mit Kakao getrunken. Manchmal wird auch etwas Schokolade zusammen mit den Pilzen gegessen.
Die modernen Ritualstrukturen
Das Bedürfnis nach sinnvollen Ritualen scheint beim westlichen Menschen der neunziger Jahre stärker denn je zu sein. Immer mehr Menschen beschäftigen sich damit, wie aus alten, verhärteten Strukturen neue lebendige Rituale geschaffen werden können. Die modernen Ritualstrukturen zum entheogenen Pilzgebrauch orientieren sich an den traditionellen indianischen Formen, so der mazatekischen Velada und dem Peyote Meeting der nordamerikanischen Indianer. Die indianischen Modelle für entheogene Rituale wurden auch für den Gebrauch von MDMA in Gruppen entsprechend adaptiert (Adamson 1985; Müller-Ebeling & Rätsch o.D.). Es sind Kreisrituale, die manchmal »Ceremonial Circle« oder »Heilkreis«, auch »Pilzkreis«, genannt werden. Der Einsatz von Kreisritualen ist nicht auf den sakramentalen Gebrauch von Pilzen oder anderen psychoaktiven Stoffen beschränkt; er hat sich in der eher heidnischen Gegenkultur weitgehend etabliert (Cahill & Halpern 1992). In den USA werden immer häufiger heilige psychoaktive Pflanzen in schamanistischen Ritualen eingenommen (Metzner 1988).
Die modernen Pilzrituale werden von den Teilnehmern meist als eine Form des »psychedelischen Schamanismus « betrachtet. Die Verwandtschaft zu den indianischen Ritualen wird gesehen. Allerdings haben die Teilnehmer das Gefühl, daß es sich um eine wiederbelebte Urform entheogener Rituale handelt, die allen Menschen dank des »kollektiven Unbewußten« oder des »morphogenetischen Feldes« zugänglich ist.
Das Set: Vorstellungen über Pilze
In den meisten Kulturen wurden oder werden psychoaktive Pflanzen benutzt. Die dadurch ausgelösten veränderten Bewußtseinszustände (altered states of consciousness, ABZ, VWB) werden kulturell geprägt und dienen sowohl dem gemeinsamen religiösen Erleben als auch der Heilung. Diese kulturelle Komponente beeinflußt die Erfahrung genauso wie die persönliche Einstellung dazu (Dobkin de Rios 1990). Die Wirkung einer psychoaktiven Substanz wird maßgeblich von den an sie gestellten Erwartungen (Set) mitbeeinflußt. Es ist ein großer Unterschied, ob man glaubt, die Pilze seien ein gefährliches Rauschgift, das zwangsläufig Horrortrips induziert, oder eine Pflanze der Götter, die mystische Erfahrungen bewirkt. Über die Herkunft und Bedeutung der entheogenen Pilze gibt es bei den Pilzessern verschiedene Überzeugungen.
• Die Pilze sind außerirdische Wesen, die auf die Erde gekommen sind, um mit dem Menschen eine symbiotische Co-Evolution einzugehen.
• Die Pilze sind Geschenke der Götter bzw. der Erdgöttin Gaia und dienen dem Menschen dazu, ein ökologisches und schamanisches Bewußtsein zu erlangen.
• Die Pilze sind ein Geschenk der Natur und verbinden den Menschen mit der inneren und äußeren Natur.
• Die Pilze sind intelligente Wesen, die unser Gehirn benötigen, um sich ihrer selbst bewußt zu werden.
• Die Pilze sind Tore zur Anderswelt oder zum Wunderland; sie offen baren die wahre Wirklichkeit.
• Die Pilze sind Heilmittel, die nicht nur Krankheiten und Symptome heilen können, sondern den gesunden Menschen heiler werden lassen.
• Die Pilze erweitern die Wirklichkeit, fördern die Spiritualität und vertiefen das Naturverständnis.
• Der Pilz ist der Baum der Erkenntnis; jeder, der davon nascht, erkennt das Göttliche.
• Die Pilze sind Lehrmeister oder Pflanzenlehrer, die vertiefte Erkenntnisse über den Menschen im Universum vermitteln. Diese Überzeugungen stehen im krassen Gegensatz zu den Überzeugungen der Gesetzgeber und deren Organe (FDA, Bundesopiumstelle) sowie auch zur etablierten naturwissenschaftlichen Psychiatrie. Sie erinnern allerdings sehr stark an die indianischen und/oder schamanischen Anschauungen.
Das Setting
Die entheogenen Pilzrituale, an denen ich teilnehmen konnte, erfüllen dieses Modell bis in alle Einzelheiten. Ich werde die Rituale nach diesem Modell beschreiben. Dabei muß ich sagen, daß der Ablauf bei allen Treffen, an denen ich zugegen war, bis auf kleine Varianten gleich war. Die individuellen Besonderheiten der Ritualleiter – ob Männer oder Frauen – schlugen sich natürlich in der Form und den Gehalten des Rituales nieder. Von manchen Ritualleitern wurde betont, daß das Ritual einer strengen Form oder Ordnung bedarf; andere legten Wert auf die den Teilnehmern angepaßte Dynamik. Ein Ritualleiter sagte, daß zu strenge Formen den Tod des Rituales bedeuten; ein Ritual würde von lebenden Menschen ausgeführt und solle dementsprechend lebendig bleiben. Er berief sich auf den indianischen Ritualclown, dessen Aufgabe es sei, das Ritual zu persiflieren und die Teilnehmer zum Lachen zu bringen. Rituale sollen nicht an er starrten Formen sterben, sondern humorvoll weiterentwickelt werden. Dabei würde der »Pilzgeist«, dem »der Schalk im Nacken sitzt«, die Funktion des Ritualclowns ausüben. Einige Ritualleiter sind der Meinung, daß während der Pilzeinnahme nicht gelacht werden soll. Andere Ritualleiter sehen im Lachen den »kosmischen Witz« des Pilzes, der eine starke Heilkraft in sich birgt (»nur wer lacht, ist gesund«). Ob gelacht wird oder nicht – die Ritualstruktur folgte bei allen Ritualleitern demselben Schema.
Lucys Xtra
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